Amsterdam | Mit Büchern reisen
Amsterdam! Fällt im Gespräch dieser Name, scheinen augenblicklich die Augen meines Gegenübers zu glänzen. Manchmal ist es der Ruf der Stadt als „Venedig des Nordens“ mit ihren zahlreichen Grachten und Brücken, der Sehnsucht auslöst. Viel öfter jedoch ist dieser gewisse Ruf der Freizügigkeit Triebfeder der Verklärung: Coffeeshops, Drogen und Prostitution, all die „Nutten, die sich im Fenster räkeln“ (begehrlicher O-Ton eines etwa 20-jährigen)! Das müsse man zumindest einmal gesehen und erlebt haben.
Muss man? Dies scheint jene Art massentouristischer Imperativ zu sein, der gleich auch bequem den Blick auf die Stadt steuert und ein anderes Hinsehen erspart, und gegen solche Zumutungen hegte ich von jeher eine gewisse Abneigung.
Die Stadt ist ein Buch, der Spaziergänger sein Leser.
Dies schreibt Cees Nooteboom in seinem Text „Die Form des Zeichens, die Form der Stadt“ (übersetzt von Helga van Beuningen), der in der Anthologie „Amsterdam. Eine Stadt in Geschichten“ abgedruckt ist. Es ist ein Satz, in dem ich mich als Reisende wiederfinde. Denn wenn ich in einer Stadt bin, mag ich sie mir auf eigene Faust erobern. Dazu gehören ein Stadtplan und ein handlicher Buchreiseführer. Am liebsten strawanze ich erst einmal zu Fuß durch die Straßen und Gassen, möchte mir die Stadt ergehen, was einer in Amsterdam allerdings nicht leicht gemacht wird. Zu Fuß Gehende gehören hier zu den am wenigsten beachteten VerkehrsteilnehmerInnen. Es ist im öffentlichen Raum nicht genug Platz für sie vorgesehen. Nur mit den allgegenwärtigen Fahrrädern kommt man leicht überall voran und sei es auf den Gehsteigen, von denen man energisch das störende Fußvolk wegklingelt.
Nirgends habe ich so viele Räder gesehen ... Hier hat jeder ein Fahrrad ... Jeder in Holland ist auf einem Eisengestell mit zwei großen Rädern unterwegs. (zit. Willem Frederik Hermans: „Ich habe immer Recht“ in „Amsterdam. Eine literarische Einladung“, Wagenbach Verlag)
Das Überqueren der Straßen erfordert Geduld, selbst an ampelgeregelten Kreuzungen, weil man ständig damit rechnen muss, Radfahrenden in die Quere zu kommen, die an einer speziellen Rot-Grün-Blindheit zu leiden scheinen. Auch das Fahren mit der Straßenbahn ist eine mindere Fortbewegungsart: Lange Wartezeiten, derart schmal dimensionierte Haltestellenbereiche, dass jedes Warten, jedes Ein- und Aussteigen zum Risiko wird, von einem vorbeifahrenden Auto oder Fahrrad mitgerissen zu werden, völlig überfüllte Waggons, in denen das Recht des Stärkeren gilt.
Und doch ist Gehen die einzige Art, wie sich das Besondere einer Stadt körpernah erleben lässt. Was hört und sieht man? Welche Menschen sind unterwegs, wie verhalten sie sich? Wie fühlt sich der fremde Boden unter den Füßen an, wie steht es mit Entfernungen von einem Punkt zum nächsten, wie wirken Gebäude, Straßen und Plätze. Nicht zuletzt immer auch die Frage: Wie und wonach riecht es?
Denn woraus besteht eine Stadt? Aus allem, was in ihr gesagt, geträumt, zerstört, geschehen ist. Aus dem Gebauten, dem Verschwundenen, dem Geträumten, das nie verwirklicht wurde. ... Eine Stadt, das sind alle Worte, die dort je gesprochen wurden, ein unaufhörliches, nie endendes Murmeln, Flüstern, Singen und Schreien, das durch die Jahrhunderte hier ertönte und wieder verwehte. ... Es lebt fort in Archiven, Gedichten, in Straßennamen und Sprichwörtern, im Wortschatz und Tonfall der Sprache.
... lesen wir bei Cees Nooteboom. Später heißt es in seinem anfangs bereits erwähnten Text:
Diese Stadt ist nicht stumm, sie reicht einem Wörter: Melkmeisjesbruggetje („Milchmädchenbrücke“), Varkenssluis („Schweineschleuse“), Kalverstraat („Kälberstraße“), und die Vorstellungskraft lässt den Spaziergänger sehen, was die Geschichte ihm erzählt hat.
Die Stärke eines Buchreiseführers sind kompakte Informationen: Ein kurzer geschichtlicher Abriss, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, Highlights, Tipps. Doch man kann eine Stadt auch ganz anders erforschen, kann sich erzählen lassen, wie es dort aussieht, wie die Menschen sind, wie es sich anfühlt, dort zu sein. Man kann, mit dem Buch in der Hand, den Spuren der ErzählerInnen nachgehen, die sie in ihren Stadtgeschichten ausgelegt haben. Oder man kann sich die Stadt nach Hause holen, im Warmen sitzend eine Stadt erobern und lesend erleben, wie sie riecht und schmeckt und wie man dort lebt. Zum Beispiel in jenen zwei Anthologien, die aus Anlass der Frankfurter Buchmesse 2016 erschienen sind.
Amsterdam, Wagenbach 2016
Da ist zum einen das Buch „Amsterdam. Eine literarische Einladung“, das in gewohnt schönroter Aufmachung bei Wagenbach verlegt wurde. Die Herausgeberin Eva Cossée, die seit 2001 einen eigenen Verlag leitet, bezeichnet sich selbst als leidenschaftliche Amsterdamerin und hat einen literarischen Rundgang durch die jüngere Geschichte der Stadt zusammengestellt, der uns einen abwechslungsreichen Einblick gewährt. Die 24 kurzen, prägnanten Texte, darunter auch je ein Gedicht von Menno Wigmann (geb. 1966) und Hanny Michaelis (1927-2010), sind Berichte und Zeugnisse von AutorInnen, die alle in Amsterdam leben oder hier verstorben sind. Geordnet sind die Geschichten annähernd chronologisch nach historischen Ereignissen, beginnend mit dem Ende des zweiten Weltkriegs. So stehen zu Beginn drei Tagebuchaufzeichnungen von Jozef Borensztajn (1898-1985), in denen er seine ersten Eindrücke bei der Rückkehr ins kriegsversehrte Amsterdam im Juni 1945 notiert. In anderen Texten erfahren wir vom viel zu langsamen Wiederaufbau, den stinkenden Grachten der 50-er und den Bausünden der 60-er Jahre, als man sukzessive die alte Bausubstanz zerstörte, Teile von Stadtvierteln abriss und Grachten zuschüttete, beschrieben etwa in A.F.Th. van der Heijdens Text „Die Schlacht um die Blaubrücke“ (übersetzt von Helga van Beuningen):
Unter großer Plackerei war die Stadt aus dem Morast gestampft worden; aus purem Schlamm hatten unsere Vorfahren sie modelliert und so mit eigenen Händen das Unmögliche möglich gemacht. Das Wasser blieb im Graben zwischen den Häusern stehen ... Und nachdem diese unmögliche Stadt ihre prächtigste Form erlangt hatte, hatten die Kleingeister begonnen, sie Stück für Stück wieder abzureißen ... Ein Einwohner muss kein ausgesprochener Liebhaber alter Giebel sein, um durch das Verschwinden des Vertrauten aufs Heftigste irritiert zu werden. Eine Irritation, die sich, zum größten Teil unbewusst, bemerkbar macht ... Mit jedem abgerissenen Haus stirbt man mit.
Weiters lesen wir Liebeserklärungen an die Stadt, etwa in Charlotte Mutsaers’ Text über das Jordaanviertel, und erfahren in Annie M.G. Schmidts humorvollen Text „Fahren Sie doch mal nach Amsterdam!“, wie es sich hier als Einheimische lebt, die nie zu all den touristischen Plätzen der Stadt kommt. Themen sind u.a. auch die politischen Unruhen in den 60-er Jahren, die Unabhängigkeit Surinams sowie Probleme, die sich aus den Flucht- und Migrationsbewegungen ergeben. Eva Cossée schreibt hierzu in ihrem Nachwort:
Inzwischen ist Amsterdam mit seinen Marokkanern, Türken, Kroaten, Polen, Syrern und fast 200 weiteren Nationalitäten (und mehr Fahrrädern als Einwohnern) noch vor New York die multikulturellste Stadt der Welt.
Gelungen ist Cossée eine überzeugende Zusammenstellung knapper Textausschnitte, die mit Aufnahme von Autoren wie Clark Accord (geb. 1961 in Surinam, verst. 2011 in Amsterdam) und Rodaan Al Galidi (geb. 1971 im Süd-Irak) diese Multikulturalität wiedergibt, einen Einblick in das Lebensgefühl der Amsterdamer vermittelt und dem zweiten Teil des Titels „Eine literarische Einladung“ insofern nachkommt, als man beim Lesen Lust verspürt, sich vor Ort auf Spurensuche zu begeben.
Amsterdam, dtv 2016
Und da ist zum anderen „Amsterdam. Eine Stadt in Geschichten“, herausgegeben vom niederländischen Schriftsteller Victor Schiferli. Das Buch ist mehr als doppelt so dick, obwohl kaum mehr Beiträge, nämlich 26, darin zu finden sind. Schiferli wählt einen epischeren Zugang, gewährt den einzelnen Geschichten mehr Raum, sich zu entfalten. Er hat den historischen Rahmen weiter gesteckt und auch einige Autoren ausgewählt, die bereits im 19. Jahrhundert geboren wurden. Die lebensgeschichtliche Bindung der BeiträgerInnen an Amsterdam ist nicht so strikt wie bei Eva Cossée. Schiferlis Rahmen heißt „AutorInnen aus den Niederlanden“. Auch er setzt ein Gedicht an den Anfang (J.C. Bloem: Die Dapperstraat) und trägt der Vielfalt der Niederlande Rechnung, indem er einige Beiträger mit sogenanntem „migrantischen Hintergrund“ aufgenommen hat, etwa Mano Bouzamour (geb. 1991) mit einen Auszug seines Debutromans „Samir, genannt Sam“ (Residenz-Verlag 2016, Übersetzung: Bettina Bach).
Schiferlis Zusammenstellung ist allerdings deutlich heterogener als jene von Eva Cossée. Man liest darin großartige Texte, etwa gleich jenen schon anfangs erwähnten von Cees Nooteboom – als Leserin, die bisher keinen Zugang zum Werk Nootebooms fand, sehe ich mich aufgefordert, mich noch einmal mit diesem Autor zu befassen. Oder der köstliche Beitrag „Winnie und die Unschuld“ von Jost Zwagerman (1963-2015), das den Untertitel „Minnelied eines heimlichen Schutzengels“ trägt und eine pointierte Dreiecksgeschichte zeichnet. Daneben gibt es jedoch deutlich schwächere Texte. Außerdem muss auf das Missverhältnis der Beitragenden hingewiesen werden: 20 Autoren stehen nur 6 Autorinnen gegenüber. Der Literaturwissenschaftler und Direktor des Poëziecentrums in Gent Carl De Strycker hat in seinen Ausführungen zur niederländischsprachigen Literatur vom persönlichen „Berg“ gesprochen, den jeder sich selbst schaffe, eine subjektive Sammlung bedeutsamer und lesenswerter Literatur. Er erklärte damit die Tatsache, dass Schriftstellerinnen in seinem Vortrag deutlich unterrepräsentiert waren. In der heutigen niederländischsprachigen Literatur sehe er jedoch zunehmend mehr gute Schriftstellerinnen als Schriftsteller, die aufmerken ließen. Leider ist davon wenig in Schiferlis Anthologie zu bemerken. Dass diese Unausgewogenheit 2016 überhaupt noch angesprochen und die Bereitschaft, Schriftstellerinnen wahrnehmen zu wollen, auch heute noch eingemahnt werden muss, ist ein Ärgernis!
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben