Frühling in Sodom.
Es wird Frühling in Sodom. Die schwefligen Nebelschleier lichten sich und die kalten Funken der Feuerbrunst erblühen in roten Aureolenformen auf neugewachsenen Kakteen: Ann Cotten schreibt wieder Gedichte.
Wir werden mit Ann Cottens »Hauptwerk. Softsoftporn« jene rätselhafte Erfahrung machen, die uns zeigt, wie Kunst die effiziente Kausalität alltäglicher Handlungen auflöst, sodass selbst rohe Lust mehr sein wird als nur ein Antrieb zur vorübergehenden Befriedigung der glühenden Sinne. Denn bei Ann Cotten wird Lust zu jener unerklärlichen Kraft werden, womit ein Mensch das Universum zu entwurzeln vermag. Sie wird uns zeigen, wie erregbar, wie maßlos, wie hellsichtig wir durch diese Empfindung werden – auch aber wie verletzlich, verwundbar und wahnsinnig sie uns macht.
Und wer glaubt, Ann Cotten komme in ihrer Dichtung noch immer daher, wie ein kleines trotziges Mädchen, der wird sich wundern über die elegische Gravität ihrer Verse: »Und landet dann, der, der Knabe, / danach, viel tausend, nasser Dämmerung Spur auf Kinn, / auf der anderen Seite, der Straße, und geht er dann, / um die Ecke und ich auch gehe, sie entlang die, dunkle Straße, / ungesehen, unsehend, und, immer noch Blick zurück, auch er das, / über die Schulter, bekannte schmale Schulter mit, dem Prunkschal, / o dann kommt« (Ann Cotten: Stirnen).
»Hauptwerk. Softsoftporn« (Verlag Peter Engstler 2013) heißt der neue Band der 1982 in Iowa (USA) geborenen Österreicherin. Wie die oben zitierten Verse schon andeuten, spielen ihre Zeilen unter anderem häufig mit den Grenzen dessen, was wir als Geschlecht aufzuteilen gelernt haben. Schauen wir nochmal nach oben und nehmen einen Vers genau in den Blick: »um die Ecke und ich auch gehe, sie entlang die, dunkle Straße«.
Geht »sie« das »ich« und somit das Subjekt »entlang« oder ist »sie« die »dunkle Straße«? Welchem Geschlecht sollten wir in diesem Vers folgen: dem grammatischen Geschlecht des Wortes »Straße« oder dem kulturellen Geschlecht des Subjekts (»ich«) der Dichtung? Auch die Dopplung im ersten zitierten Vers - »der, der Knabe« – schiebt die wie auch immer zu beantwortende Frage nach dem Geschlecht der im Gedicht aufeinander bezogenen Personen in den Vordergrund.
Aber vielleicht ist die Gender-Frage unerheblich und überflüssig. Denn eigentliches Thema des ersten Textes ist eine Trennung: »Und wir lassen uns, geschnitten so, sehr voneinander, / trennen, ich noch er fast, er wieder ich, in Abwesenheit dann« (Ann Cotten: Stirnen). An dieser Stelle wird ein Pol der Dichotomie grundgelegt, der sich mit mindestens einem weiteren Rotationspunkt abwechseln wird: Der seltsam zärtliche Schmerz der Liebe als softsoftporn und der Überdosis der Leiblichkeit, die im hard core des Liebesspiels steckt: »[…] bis der Abend wird und süß / sein Empfinden sich niederhockt über die Zedern / und kackt einen kleinen Mond von Empfinden«.
Ich schlage vor, den Gedichtband in drei Schritten zu betrachten: 1) Liebe, ihre Unersättlichkeit, ihre Grausamkeit, wie wir ihr verfallen sind; 2) Love Hurts: die harten Momente der zärtlichen Neigung; 3) das Problem der Poesie als indiskreter Diskurs. Meine Bemerkungen sind keineswegs vollständig und beanspruchen nicht mehr als eine mögliche Lesart dieses wundervollen (Haupt-)Werks zu sein.
Liebe: Von unersättlicher Grausamkeit
Gegen Ende des Büchleins steht ein Text mit folgendem Titel: »Nachts um halb eins, 200 % aufgebrezelt, nachdenklich vor Liebe«. In dem Gedicht klingt der Ton der Ode bzw. der Elegie an. Die Sprache ist mit ihrer widerholenden, kreisenden Bewegung ein bisschen resigniert, auch verzweifelt oder verzagt; wovon diese Sprache spricht, das ist das Drama einer Stimme, die jenes anruft, das sie ersehnt, ohne jedoch – wie es scheint – große Hoffnung zu haben, es gewinnen zu können: »Oh lass mich doch, lass mich doch zu dir hin / wollen nur, wollen nur in den Wald, wollen Zeit«.
Diese beiden Verse zeigen, dass Ann Cotten zu den gesuchten Virtuosen dieser künstlerischen Disziplin gehört. Neben diesem Gedicht ist eine Zeichnung von Mareile Fellien gestellt, die mehr darstellt als einfachhin ein paar Verse zu illustrieren. Die beiden Frauen haben ein Gesamtkunstwerk geschaffen, bei dem Dichtung und Zeichnung verweisen auf einen größeren Zusammenhang, den sie gemeinsam stiften. Mareile Felliens Zeichnungen verdienen eine eigene Besprechung, zu der hier leider die Zeit nicht ausreicht. An dieser Stelle nur dies: Dem Gedicht ist eine Zeichnung beigestellt, die eine bewaldete Landschaft mit Bach zeigt. Eine Frau steht in dem Strom. Sie ist gekleidet in einem geblümten Kleid, worüber sie einen Mantel mit Nadelstreifen und einem rokokoartigem Rüschenkragen trägt. Das fließende Gewässer reicht der Figur über die Knöchel bis etwa der Hälfte der Schienbeine. Ihr Haupt mit dem strähnig langen Haar ist gesenkt, die gesamte Positur von einer gewissen Traurigkeit gezeichnet.
Wenn wir nun aber wieder an Ann Cottens Vers denken: »Oh lass mich doch, lass mich doch zu dir hin«, gewinnt diese Wideraufnahme von »lass mich doch« eine erschütternde Abgründigkeit. Denn es handelt sich nicht nur um die verzagte Bitte einer Liebenden an ihren Geliebten, das er sie doch »zu« ihm hin »lasse«, was an sich die perverse Asymmetrie des Liebens zum Ausdruck bringt; nein, Ann Cotten, hat längst diese asymmetrische Verfallenheit an den Geliebten durchbrochen, mit ihrem – allerdings ebenso vernichtenden – ersten »lass mich doch«, das im Zusammenhang mit der Frau im Bach, in die suizidale Tat Ophelias erinnert. Lass mich doch – ganz in Ruhe; lass mich doch – sein; lass mich doch – aus dem Leben scheinen.
Auch der Fortgang des Gedichts mit »wollen nur, wollen nur in den Wald, wollen Zeit« bringt diese Zwiespältigkeit voran: Es ist Wollen »nur«, also reines Wollen. Aber es ist auch der Wunsch, Dauer zu haben, an einem abgeschiedenen Ort zu sein. Was in der Tiefe der Nacht hier in wundervoll melodischen Worten aus alliterativen Vibranten und dunklen Vokalen gefasst ist, ist aber auch die dunkle Tragik des Wollens. Im dritten und vierten Vers steigert die Dichterin diesen Wunsch noch mit »[…] wollen Zeit / ohne Ende und Sonnenlicht mit dir in einem / kühlen Bach […]«. Eine dunkle Ewigkeit wünscht sich die Stimme des Gedichts. Es ist das Paradoxon, in das die Liebe am meisten sich verguckt hat.
Als nächstes folgt in Ann Cottens Gedicht eine pastorale Ikonographie: »[…] kühlen Bach, der plätschert durch den Berg hinab, / und kühle Naßblumen, Waldklamm […]«. Während die korrespondierende Zeichnung, den oberen Bachlauf surrealistisch in einen U-Bahn-Wagen verwandelt, in dessen offenen Schiebetüren Bäume gestürzt sind. Der Bachlauf wird hier mit dem U-Bahn-Schacht (ebenfalls ein dunkler Ort, der von Zügen durchrauscht wird) gleich gesetzt und somit die bukolische Szene mit der urbanen Welt identifiziert. Und es sind in der Tat auch bei Hamlet höhere zivilisatorische Räume (der Hof von Helsingør), die Ophelia den Tod im Bach suchen lassen. Ann Cotten jedenfalls rückt nun die Elementarität des Wassers in den Vordergrund: »kühl« (2x), »Naßblumen«, sein »plätschern«.
Jetzt aber kann in den letzten drei Versen die gesamte Widersprüchlichkeit dieses Liebesverhältnisses dramatisieren: »[…] Glück / ungetrübt von fast allem, Ellbogen um den Hals, / Lachen im Winkel / Mund Serpentinen von / Lachen und Steinen und Eidechsen, ja«. Was ist dieses Glück, das »fast« ungetrübt ist? Ist der Ellbogen um den Hals eine Bekundung der Zärtlichkeit oder ein Moment der Gewalt? Ist das Lachen ein Lachen der abgeneigten Winkel oder ein bitteres, zynisches Lachen im Winkel des Mundes? Und ist der Mund selbst in seiner Rede serpentinenartig, ein ewiges Hin und Her, ohne Höhepunkt oder bis in den Abgrund?
Aber vielleicht gibt es auch optimistischere Lesarten. Es vermengt sich in diesen Versen jedoch häufig der Ton der Anklage mit dem niedergedrückten Flehen der Resignation. Es herrscht häufig eine Einsicht in verratene Liebe, eine preisgegebene Hingabe: »Er füllte mir, er hatte mich vergessen, / den Becher voll zum Übergehen, und aus der Milch / entzieht er sich und legt den Kopf mir seitlich an die Brust«.
Wir lesen hier nicht nur wundervoll subtile erotische Lyrik: »Milch« und einen damit zum Übergehen vollen Becher, aus dem sich »er« sodann »entzieht«. Man braucht nicht sehr viel schmutzige Fantasie, um hier eine Überblendung von gewöhnlicher sexueller Praxis und alltäglichen Gesten des Milch-Einschenkens zu sehen. In diese Überblendung jedoch ist einmontiert ein feststellender Kommentar, der wie aus einem Soliloquium kommt: »er hatte mich vergessen«, der nichts mit der im Text beschriebenen, aber doppelt kodierten Praxis zu tun hat – außer dass der Gedanke alles verändert.
Unter den vielen albernen Neckereien und köstlichen Schweinereien, die Ann Cotten später noch in ihrem allzu harten Gestus darstellen wird, liegt eine seltsam konservative Konstante, die, wie diese Verse oben zeigen, eine gewisse Wahrhaftigkeit einzuklagen scheinen: »täglich noch nicht warum nicht amputierte Brust, / die leer sich gibt dem blinden Schlaf des Schönen«.
In dem Gedicht »An mich selbst« entsteht ein Appell an die absolute Gegenwart: »Schau nicht in die Zukunft, schau nicht in die Vergangenheit / richte den Blick auf den Boden, wo es glitzert«. Aber ihre Besinnung auf die Gegenwart ist eine Besinnung auf den Schmerz: »auf sie kannst du starren, auf, in ihnen, die mickrige Kippe / […] Beiß dir auf / die Lippen, es ist ein reiner Schmerz«. Aber wieder wird die im Gedicht angestoßene Reflexion in das Paradox der Hingabe münden: »[…] geht, geht, / das Glitzern schmerzt, doch es wäre unerträglich / bei einem Körper nach Wärme zu schmelzen«.
Es gibt Gedichte von hedonistischem Frohmut, wie man ihn selten so hübsch dahingeschrieben findet. Allerdings muss man sagen, dass bei Ann Cotten auch ein Strap-on-Penis nur ein keusches Symbol ihrer unendlichen Wehmut ist, dass die Dichterin sich bei aller zur Schau gestellten schroffen Toughness nichts inniger zu wünschen scheint als sich bei den Hirten der Lust reinzuwaschen.
Love hurts
Ich möchte zunächst daran erinnern, dass der amerikanische Künstler Jeff Koons nach seiner Scheidung von der Porno-Darstellerin Ilona Staller (auch als La Cicciolina bekannt) eine Desexualisierung von Sex propagierte, nur um später umso eifriger das Motiv aus Salvador Dalís »The Great Masturbator« (1929) aufzunehmen. Nebenbei, gesagt.
Das Verhältnis zwischen Liebe und Lust wird zunehmend in Szenen des urbanen Raums entfaltet, wobei aber auch die Texte mit allerlei Insignien der natürlichen Welt ornamentiert sind. Man könnte sich z.B. in die National-Geographics-Metaphern sehr verlieben: »Breche mich auf dem Bild weg wie Kalb vom Gletscher«. Kalben bezeichnet das Abrutschen von der Eisbrocken eines Gletschers in ein Gewässer. Mit dieser Abschiedsgeste des Ausreißens einer Person (des lyrischen Ichs) aus einem Bild wie eben das Eis aus einer Gletscherwand leitet das Gedicht ein Thema ein, das wiederrum im Bereich der amourösen Kernschmelzen angesiedelt ist.
Nachdem das Subjekt des Gedichts »herausgebrochen« worden ist, wechselt der Text in die dritte Person über: »sie stehen alle drauf und machen Gesichtsausdrücke / es ist Reiz, es ist Reiz, es ist Reiz, Reiz, Reiz, Reiz«. Und plötzlich befinden wir uns in einem als möglichst international (oder zumindest multikulturell) inszenierten Club: »gib mir diesen koreanischen Biss, Bass, / spring dazu wie ein Afrikaner, sing / auf Englisch so verzerrt, […]«. Überall dominiert die Steigerung des Reizes: »Schließ diesen Muskel nicht mehr! Nie! Reiz, Reiz, Reiz, Reiz«.
Ein unerhörtes Versprechen liegt in der Wonne dieses Reizes. Das Gedicht feiert die Reizüberflutung als Luxus – einen gewissen infantilen Überfluss, in dem die körperliche Exaltation eine Art Peter Pan Gefühl von »nie« vermittelt, also zu einer Begegnung mit dem Never-Never-Land der Verheißung wird. Aber die Identifizierung von Individuum und der Masse bzw. des abgerutschten Eises und dem Gletscher erzeugt eine wundervolle Spannung und ist ungemein produktiv, wenn man bedenkt, dass sowohl die Gletschermetaphorik später wieder aufgenommen werden wird (z.B. in dem Gedicht »Wellensalat«) wie auch die Rede vom Zerrinnen, Schmelzen etc. Gleichwohl wird aber der Reiz – wie bei anderen reiterativen Passagen – zu einem manischen Moment. Die Dichterin erzeugt so den Effekt einer als Text ausagierten Verzweiflung.
Oder auch nicht. Denn sooft die Autorin an die Analfixierung der ebenzitierten Passage anknüpft (»Schließ diesen Muskel nicht mehr! Nie!«), gewinnt sie als poetische Illusion eine Atmosphäre des hedonistisch Unverblümten und frivol Unverbindlichen: »Ich lasse meine Hand gleiten zwischen deinen Arsch, ich meine, / ich lasse meine Hand zwischen deine Backen schwärmen / […] / doch wir ziehen es vor Ding einer Nacht zu sein, / von zwei Nächten, von drei, von vier, mach es gut, / keinen Krach, kein Weh, gute Nacht, keinen Kuss.«
Aber niemals findet man bei Ann Cotten eine unkompliziert machende, nivellierende Ideologie oder seichtes Lebensgefühl. Vielmehr erzeugen Passagen wie ebenjene einen Resonanzraum, in dem die Forderung des Gefühls umso dramatischer gestellt werden kann: Das noch phallisch eingefärbte erotische Bild »Du bist mein Dolch« schlägt dann um in »dein Wort in meiner Eingeweide«. Es sind nicht nur Schwänze und Schmetterlinge, die sich regen in den Leibern; vielmehr sind es auch Worte, verbale Gesten der Zuneigung.
Vielleicht ist aber jene Stimme am eigenartigsten, die man in vielen Gedichten gegenwärtig wird. Am herrlichsten ist sie in dem Langgedicht, das mit einem Proskript »Gemmen« beginnt: »Reiß ich mit irgend Mitteln ihr / die Großpupillen auf / Schläft sie, so kann ich sie betrachten / und weiß nicht mehr – doch was ist Wissen? Wenn ich mich so – hat sie genug vom Kissen«. Das Wissen als Träume, die aus dem Kissen gewonnen sind. Auch die Stimme, die von »Mitteln« spricht, einer Droge vielleicht, die jener die Pupillen aufreißen werden zu einer Hellsichtigkeit, die in den Schlaf führt.
Was aber nun folgt ist eine Orgie an Anrufungen, einem Lustgeschrei, das aber immer wieder zu seltsamen Momenten der Reflexion findet: Eine an Hölderlin-Oden erinnernde Dark Room Phantasmagorie. »Du mit den haarigen Beinen eines dritten, er mit deinen / und meinen glatten Beinen ringend im Oberschenkel / und die Pos / bekannte Gesellen / die was verheimlichen und gar nicht müssten«. Es findet sich immer eine gewisse Melancholie in dieser Heiterkeit, die die Langverse so anmutig macht: »… Niederrücken, Senke, krummlanges Haar, leichte Büffeltränke, / roll, roll; roll roll die untergehende Sonne, zweidimensional / eine gefistelte Idee, sacht glüh sacht renn nun und davon / oh von kühlen Kiefern, schaudernd vor zückender Verwirrung«. Und dann wieder die metaphorischen Rede der Milch, die so ganz anders ist als bei Paul Celan: »O Laune des Morgens, o Bär, o zarteste Echse aus Milch«. Die Echse, versteht sich, ist ein Tier mit einem Schwanz.
Was die Lyrik von Ann Cotten so ansprechend macht, ist die relative Konsistenz ihres metaphorischen Denkens: Milch, Echsen, Gletscher, Tauben, das Rektum, auch das Setting des Clubs, die Pose des Verbrauchten usf. – allesamt Bilder, die sich gegenseitig vertiefen, ausdeuten, die aber auch Text um Text neue Schattierungen gewinnen, sodass der Gedichtband weniger wie eine Kompilation verstreuter Texte wirkt; vielmehr entsteht zunehmend ein Abdruck eines Lebens, das angesichts von Extremen, Exzessen und permanentem Ausnahmezuständen sich immer neu zu gewinnen sucht, ohne moralistische Abgrenzungen vorzunehmen. Nach der Sättigung beginnt der Appetit erneut: »Nicht wissen. Fliegen. Nicht aufhören, / wenn es am schönsten, am schönsten ist, / dann am weitesten fliegen, und ins Gras / die lustigen Dinge sagen, flüstern, / die Sachen kenn ich nicht so lang, aber / die Falten sagen mir etwas vielmehr als / dass ich sie bilde aus mir heraus. Ich kann / nicht mehr, nicht mehr vor langer Lust, / Pause! sprechen«.
Indiskretion der Bilder
Die illusionistischen Erfordernisse der Literatur verleihen seinem spezifisch sprachlichen Diskurs, insbesondere wenn er als Text verbürgt wird, einen gewissen Grad an Diskretion. Die Notwendigkeit, dass der Rezipient sich dieses Wort oder jenes Wortgefüge bildlich vorzustellen vermag, ist keineswegs so invasiv wie etwa das Ablaufen von Youporn-Clips.
Und wer bei Pornographie – aufgrund ihrer einfallslosen Omnipräsenz – sich heute schon nicht mehr einem müden Gähnen erwehren kann, der wird sich glücklich schätzen, dass die Literatur ihn nicht als Konsument, sondern zum Komplizen will: »Milch der Frühe ein hoher Schaum ist mit so vielen Versionen / wie Erinnerungen der Augäpfel, wo sie gewesen sind« (Ann Cotten: Gemmen).
Während es also einen indiskreten, vornehmlich visuellen Diskurs der Pornographie gibt, könnte man den Untertitel, den Ann Cotten für ihr »Hauptwerk« wählt, also »softsoftporn« wohl als die reflektierte Qualifizierung dessen bezeichnen, das in ihrem Gedichtband als Diskurs stattfindet. Ihre Rede ist diskreter, aber zugleich auch qualitativ anders als handelsübliche Pornographie. Eine Probe aufs Exempel wäre der Versuch folgende Verse zu verfilmen: »ich bin in den Anblick deiner Hoden versunken, / die, wenn sie in Bewegung gerate, dem Planeten Solaris ähneln. / Ich bin, wie man es von brühender Flüssigkeit kennt, / an deiner Brust hängend kleben geblieben, lächelnder Mund, / Keimauge, unwiderstehliches«. Gewiss, filmische Inszenierungen sind grundsätzlich möglich. Aber gelänge ihnen, anstatt der interpretierenden Inszenierung, eine bloße Übersetzung dessen, was sich als ästhetische Erfahrung in diesen Versen als écriture vermittelt?
Zudem geht es um die Autonomie des Rezipienten oder der Rezipientin. Ann Cotten dichtet nicht mit dem Hammer, wenn es auch gelegentlich grob zugeht in den Gedichten. Es liegt in der Natur ihres Projekts, die sie im Vorwort mit den Begriffen »Kartierung« und »Forschung« bestimmt, dass ihre Bilder nicht plakativ, nicht privatistisch, aber auch nicht parasitär sind. Im Vorwort fragt sie: »Wozu sollte man etwas, was nur stimmt, solange es da ist, allgemein erschließen? «
Was singulär, was zum unvertretbaren Teil des Selbst, also einmalige, unwiederholbare Erfahrung des Selbst ist, lässt sich eigentlich nicht kommunizieren. »Allgemeinheit kann nur ein produktiver Vorsatz sein: mit / alten Wörtern neue Erfahrungen beschreiben, von denen / ich nicht weiß, was sie genau sind«. Gegenstände verlieren sich mit zunehmendem Abstand.
Die Dichterin ist sich der unerforschlichen Natur ihres Herzens, ihrer konträren Gefühlen, ihren paradoxen Gelüsten, ihrem inneren Widerspruch bewusst; sie ist sich auch den undurchschaubaren Umständen ihrer jeweils spezifisch einmaligen Erlebnisse und Umstände bewusst. Wie wir alle. Wie wir alle. Alle. Wir alle. Alle.
Nur: Sie geht als eine auf Veräußerung und Veröffentlichung angelegte Person das Experiment ein, eine Exploration des Selbst als Anschauungsstück mit ästhetischem Mehrwert zu inszenieren. Ob dies ein nobles Unterfangen sei, lässt sie dabei offen. Ann Cotten ist keine heroische Frömmlerin ihrer eigenen Erfahrungen, wie es noch zu den Hochzeiten von Peter Handke üblich war.
Sie ist sich gleichermaßen bewusst, dass ihre Verse »das Beste und Liebste sind, was ich zusammenbekommen könnte«, aber eben auch – und dies macht den Unterschied und ihre Größe aus – dass die Veröffentlichung auch irgendwie an »Brutalität« grenzt.
So sehr die pornographischen Bilder der Poesie als sprachliche Konstrukte gewissermaßen diskret sind, weil sie immer auf die Komplizenschaft des Rezipienten verweisen sind, so sehr ist auch die Ausstellung der singulären Erfahrung im intersubjektiven Modus der Allgemeinheit mit einer gewissen Scham behaftet, die vor der eigenen Brutalität zurückschreckt.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben