Ein weiterer Geniestreich aus der Werkstatt Martynowa/Jurjew
Immer wieder gibt der Sand der russischen/sowjetischen Literatur des vergangenen Jahrhunderts Diamanten frei. Tatarinowa. Die Prophetin von St. Petersburg ist nach Wsewolod Petrows Die Manon Lascaut von Turdej, das mit seinem Erscheinen für einigen Wirbel sorgte, nun schon das zweite aus der Werkstatt Martynova/Jurjew stammende Buch, das im Weidle Verlag in einer großartigen, das heißt dem Text angemessenen Ausstattung erschienen ist. Großartig ist die Gestaltung nicht, weil sie mit Goldschnitt protzt oder in teures Leinen eingebunden wäre, nein es handelt sich um ein Paperback auf dessen Front ein Foto, das Gesicht einer Frau zeigt, aufgenommen Anfang des letzten Jahrhunderts. Dass es sich aus meiner Sicht erkennbar um eine Russin handelt, kann aber auch der Stummfilmästhetik des Fotos geschuldet sein, und meinem Wissen, dass das Bild die Autorin Anna Radlowa zeigt.
Sie schaut nicht in die Kamera. Das scheint mir wichtig, aber sie schaut auch nicht kokett an der Kamera vorbei. Es scheint, als nähme sie überhaupt nicht wahr, dass sie fotografiert wird.
Der Text der Radlowa nimmt den Leser dann noch einmal hundert Jahre weiter mit zurück in das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nach St. Petersburg, der Hauptstadt des Zarenreiches, das gerade mit seinen westlichen Verbündeten Napoleon besiegt hat und an der restaurativen Neugestaltung des europäischen Kontinentes beteiligt ist. Die Kriegsbündnisse bröseln.
Von den politischen Verhältnissen im Westen Europas aber, ist im Buch nur vermittelt die Rede. Als der Zar sich kurz nach der Mitte des Buches auf eine Reise begibt, kann man davon ausgehen, er reist zu einer der Nachfolgeveranstaltungen des Wiener Kongresses, also zu einer Sitzung der Siegermächte in der Folge der Niederschlagung des Napoleonischen Frankreichs.
In der Novelle erlässt der Zar bei seiner Abreise die Anweisung, alle Geheimgesellschaften zu schließen. Zentrale Figur der Novelle ist jene Titel gebende Tatarinowa, die eben einer solchen religiösen Sekte im Petersburg jener Zeit vorsteht. Dieser Sekte gehören Vertreter des höchsten Adels an und auch vom Zaren selbst ist man nicht ganz sicher, ob er nicht auch ein Mitglied dieser Vereinigung war. Die Sekte predigt sexuelle Enthaltsamkeit, geht aber nicht soweit, wie z.B. die Skopzen, die sich selbst verstümmelten. Wir erleben im Buch den Niedergang dieser Sekte, ihren Verlust an Einfluss. Zentrales Zeichen hierfür ist der Umstand, dass Tatrinowa eine herrschaftliche Wohnung verlassen muss, die ihr über Jahre zur Verfügung stand.
Oleg Jurjew schreibt im Nachwort:
Aufgrund der erzähltechnischen Besonderheiten … gehört der Text einer ganz speziellen Romangattung an – der Gattung des tynjanowschen literaturhistorischen Romans, der auf einer dokumentarischen Basis, d.h. auf einer wissenschaftlichen Arbeit mit Archivquellen aufgebaut ist, und sehr oft wie eine Collage von nacherzählten oder direkt erzählten Dokumenten erscheint.
Der Text collagiert also. Er verschneidet verschiedenste Textarten, vom Spitzelbericht über den Tagebucheintrag bis zu erzählenden und reflektierenden Formen. Im Ergebnis gibt er eine Art kaleidoskopische Sicht auf die Dinge frei. Das ist kunstvoll und grandios. Und vor allem sind die verschiedenen Temperamente, wenn man die textlichen Abstufungen einmal so bezeichnen darf, von Daniel Jurjew großartig übersetzt worden. Er hat zu jeder textlichen Geste eine ihr entsprechende Deutsche gefunden.
Oleg Jurjew schreibt weiter in seinem Nachwort, das sich aufgrund der persönlichen und politischen Verwerfungen um Radlowa so spannend liest wie ein Roman:
Anna Radlowa benutzt die Methode des Leningrader „historisch-philologischen Romans“, aber sie ist beileibe keine Historikerin und keine Philologin. Sie ist eine Dichterin. Sie erlaubt sich kleine Anachronismen und tapfere Annahmen. Sie erzählt die Geschichte Tatarinowas nach den Gesetzen der Dichtung...
(Im Pforte Verlag sind vor einigen Jahren unter dem Titel Der Flügelgast Gedichte von Radlowa in der Übersetzung von Nitzberg erschienen.)
Darüber hinaus arbeitet der Text leitmotivisch. Immer wieder taucht eine wächserne weiße Taube auf, mit deren Verschwinden die Novelle auch endet.
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