„Existenz in hohem Grade umwelts- und landschaftsbedingt“
‚Kinder mit Papierdrachen‘: der Eine hob die Hand. Der andere, Ärmerchen, lief barfuß nebenher, die Bindfadenrolle unter grünem Arm, und die blaue Himmelswand, weißgefasert, hob sich übers Gras! Ich schlug mit dem Kopf in die stille Goldluft; ich fauchte durch die Nase; ich hob die gefühllosen Hände: da!: Da flog er!
So stürmisch-zärtlich, so nah und empathisch konnte der oft so rabiate Arno Schmidt sein, z.B. in „Schwarze Spiegel“, einem Roman, der von einem vom Atomkrieg zerstörten Europa erzählt, in dem der Romanheld die Hamburger Kunsthalle plündert und u.a. A. Paul Webers „Kinder mit Drachen“ aus dem Rahmen holt. Als Schmidt seinen Verleger Rowohlt in Hamburg besuchte, hatte er die Farblithografie in der Kunsthalle gesehen, wo man auch Abzügen kaufen konnte. Die 10 DM waren dem armen Schriftsteller aber zu viel. Er schrieb dem Künstler „einen enthusiastischen Brief“, und der schenkte ihm daraufhin das Bild und zwei weitere Lithografien.
Mit Rowohlt war es allerdings nicht ganz einfach: Als das Ehepaar Schmidt im Oktober 1950 zu ihm fuhr, bekamen sie im Zimmer des Verlegers Ledig-Rowohlt zufällig Schmidts Manuskript von „Brand's Haide“ zu sehen, vom Lektor Wolfgang Weyrauch abgelehnt. Alice Schmidt schrieb in ihr Tagebuch:
3 engbeschriebene Bogen. (...) Ständig Lob und Tadel gemischt.
Sie sagte,
(um d. Vertrag bangend) er soll's nur lassen. Er war ganz außer sich: (...) Wir fahren sofort heim. Will nichts mit ihnen zu schaffen haben.
Dennoch erschien ein Jahr später dieser Roman mit dem ergänzenden Kurzroman „Schwarze Spiegel“ bei Rowohlt. Aber auch das ging nicht ohne Auseinandersetzungen:
Marek schreibt einen frechen Brief: will A. eingangs die Unsterblichkeit seiner Werke nicht zugeben
heißt es in Alice Schmidts Tagebuch. Und will dann noch den Schluss von „Schwarze Spiegel“ geändert haben:
A. ist außer sich. Ändern kommt gar nicht in Frage. Das ist der einzig mögliche Schluß!
Schmidt setzte sich durch.
Arno Schmidt hatte es lange Zeit nicht leicht, veröffentlicht zu werden. Zu anspruchsvoll seine Texte, zu experimentell die Sprache, politisch zu kritisch und zu (sehr) sexuell aufgeladen - wegen der „Seelandschaft mit Pocahontas“ wurde er tatsächlich 1955 wegen Gotteslästerung und Pornografie angezeigt. Erst der Karlsruher Stahlberg Verlag hielt ab Mitte der fünfziger Jahre bis zu seinem Tod zu ihm, trotz aller Anfeindungen und auch verlegerischen Schwierigkeiten mit seinen Mehrspaltenbüchern ab „KAFF auch Mare Crisium“.
Eine richtige, große Biografie dieses literarischen Einzelgängers ist noch nicht erschienen. Als dicker Appetithappen ist jetzt eine umfangreiche Bildbiographie publiziert worden, herausgegeben von Fanny Esterházy, die einführenden Texte zu jedem Kapitel hat Bernd Rauschenbach von der Arno-Schmidt-Stiftung geschrieben. Sicher und kenntnisreich fächert er viele Einzelheiten aus Schmidts Leben auf, seiner Literatur, seiner Einstellung zur Nachkriegsgesellschaft und dem literarischen und journalistischen Betrieb, zieht Verbindungslinien, nennt Querverweise, schildert auch die politischen Zeitumstände. Bleibt dabei stets , ohne Urteile abzugeben, auch kritisch, was beispielsweise Schmidts schwierigen Umgang mit seinen Eltern und Freunden angeht oder seinen Alkoholkonsum. Man kann schon jetzt ahnen und sich darauf freuen, wie umfangreich, detailliert und wie gut geschrieben die Biografie sein wird, an der Rauschenbach schon seit einiger Zeit sitzt.
Da Arno Schmidt stets betonte, wie wichtig ihm die örtliche Umgebung ist, Wald, Wiesen, Hügel („Existenz in hohem Grade umwelts- und landschaftsbedingt“), ist auch die Bildbiografie nach seinen Wohnorten strukturiert: Hamburg, Lauban, Greiffenberg vor dem Krieg, Cordingen, Gau-Bickelheim, Kastel, Darmstadt und dann, ab 1958 bis zu seinem Tod 1979, Bargfeld in der Lüneburger Heide. An diesen Orten spielen, mehr oder weniger verschlüsselt oder verfremdet, auch die meisten seiner Werke, bis zum letzten, nicht vollendeten Roman „Julia“. Andere Orte hat er besucht und in die Romane eingearbeitet, Hamburg, Ahlden oder Ost-Berlin, immer sind seine Romane in der realen Welt verankert, bildet sie genau ab, mit allen Schattenseiten.
In der Bildbiografie wird diese Verankerung anschaulich gemacht, die Welt, wie sie sich Schmidt darbot, wird in vielen, vielen Bildern gezeigt. Mit ihrer schieren Überfülle an Materialien ergibt sich ein umfassendes Bild im wahrsten Sinn des Worts, weil Schmidt, sich seiner Rolle als großes „Gehirntier“ bewusst, vieles aufgehoben hat, auch scheinbar Nebensächliches wie Fernsehzeitungen und Versandhauskataloge:
moderne Schriftsteller müßten gesetzlich dazu angehalten werden, zu notiren, was für Sendungen sie=sich so täglich angesehen habm
schreibt er in „Zettels Traum“. So ergibt sich ein genaues und oft genug deprimierendes Mosaik der ärmlichen Nachkriegszeit mit ihren politischen Problemen vor allem für Linke und Aufgeklärte und ein schöner Einblick in den Alltag des Ehepaars Schmidt - genauer und bildhafter, als es zu fast allen anderen Nachkriegsschriftstellern möglich ist.
Lange und lustvoll stöbert man in den abgedruckten Dokumenten, freut sich über die vielen, vielen Fotos und an den erläuternden und ergänzenden Zitaten aus Schmidts Werken, Alice Schmidts Tagebüchern von 1948 bis 1956 und Briefen von und an Zeitgenossen, die mit Schmidt zu tun hatten: die befreundeten Künstler Schlotter, sein Lektor und Verleger Ernst Krawehl, den Übersetzer Hans Wollschläger, Schmidts Schwester Lucie, Alfred Andersch, Günther Grass und viele, viele anderen. Eine Vollständigkeit wird weder angestrebt, noch ist sie möglich.
Das Buch ist schön komponiert, oft in Doppelseiten zu einem Thema, und abwechslungsreich gestaltet: Fotos und Faksimiles, Buchumschläge und Zeitungsausrisse, Häuserpläne und Kartenausschnitte, Postkarten und Auswanderungsbescheide, Kinokarten und Einladungen zur Gruppe 47. Ein Zettel mit dem Vorschlag von Erich Kästner, Arno Schmidt ins PEN-Präsidium zu wählen, Schreibmaschinenprospekte, sein Heiratsschein und der Fragebogen des „Military Government of Germany“ mit dem falschen Geburtsjahr 1910, ein Brief des Erzbistums Köln an einen Rechtsanwalt mit dem Vorschlag, Schmidt anzuzeigen. Sachlich sind wenige Fehler zu finden, einige Bilder sind ein wenig klein geraten, und die Schrifttype, in der Schmidts Zitate wiedergegeben sind, ist zu groß und fällt optisch zu sehr heraus. Aber das sind nur Kleinigkeiten. Die Bildbiografie zeigt auf wunderschöne Weise ein reichhaltig dokumentiertes Leben – das Schönste daran ist, dass es dann auch wieder einmal zum Lesen seiner Romane anregt. Nicht das Schlechteste, was man über eine Biografie (die ja noch nicht mal eine ist) sagen kann.
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