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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

GEDICHTE - SIND WICHTIG!

Jürgen Brocân stellt die indische Dichterin Arundhati Subramaniam in einer ersten Auswahl auf Deutsch vor.
Hamburg

Arundhati Subramaniam, Jahrgang 1967, ist eine namhafte indische Dichterin, die auf Englisch schreibt. Sie stammt aus der Megacity Mumbai, wo sie in einer Tamilischen Familie aufgewachsen ist.

Ihre Mehrsprachigkeit und multiethnische Teilhabe an mehreren Kulturen sieht die Journalistin, Kulturvernetzerin und Autorin als typisch für eine Inderin an. Den Großteil des Jahres in Mumbai lebend, verbringt sie auch längere Rückzugszeitspannen im angestammten grünen Süden des Bundesstaats Tamil Nadu, in einem Ashram (Jogakloster) am Fuß des Velliangiri-Gebirges, die den Hindus als Ersatz-Kailash, weil eine Manifestation Shivas, gilt.

Subramaniam hat drei Gedichtbände und zwei Prosabücher veröffentlicht, sie ist in vielen Anthologien vertreten, schreibt seit 1989 regelmäßig Kolumnen und stand einige Jahre dem interdisziplinären Diskussionszentrum Chauraha vor, als Leiterin der Abteilung Tanz des Indischen Zentrums für Darstellende Künste.

Subramaniam hat einige wichtige indische Literaturpreise gewonnen und vertritt ihr Land auf Tagungen im Ausland. So verantwortet sie seit 2004 die indische Lyrik im Poetry International Web des gleichnamigen Rotterdamer Gedichteforums. Ihre Lyrik ist in einige indische und westeuropäische Sprachen übersetzt.

Deutsch konnte man Arundhati Subramaniam zum ersten Mal anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2006 lesen, in Übersetzungen, die ich, Ute Eisinger, für die Wiener Literaturzeitschrift „Wespennest”  angefertigt hatte. Der Herausgeber der Indien-Nummer, Ilija Trojanov, hatte eine Auswahl aus Texten zeitgenössischer AutorInnen getroffen.

Nun liegt der erste Buch von Subramanians Gedichten vor, aus dem Englischen ins Deutsche und in Eigenredaktion mit der Edition Offenes Feld herausgebracht von Jürgen Brocân in Dortmund.

Der deutsche Subramaniam-Band heißt nach einer Gedichtzeile „Die Stadt brandete gegen mich”. Er kann sich sehen lassen, von der ansprechenden Einbandgestaltung durch Jehangir Sabavala über die 43 gut lesbaren Übersetzungen Brocâns – neben denen man allerdings die Originalversionen vermisst.

Brocân hat seine Auswahl aus den letzten beiden Gedichtbänden der Autorin, „Where I Live” und „When God Is A Traveller” mit einer Handvoll Anmerkungen und einem kurzen Nachwort versehen.

Derartige Fußnoten können es mit der kulturellen Kluft allemal nicht aufnehmen, die hiesige Leser von der fremden Kultur Indiens trennt. Sie ist größer, als wir Europäer ­– früher Kolonisatoren, heute Touristen und bestinformierte Überblicker der globalisierten Welt, wie wir meinen – zugeben wollen. In einem von Subramanians bekanntesten Gedichten, „An den walisischen Kritiker, der mich nicht erkennbar indisch findet“ [Der Text fehlt im besprochenen Buch. Sollte sich ein Verlag entschließen, meine Auswahl indischer Gedichte auf Deutsch zu drucken, wird die Übersetzung enthalten sein, aus der die Zeilen stammen.] wird diese Haltung ironisiert:

Lehren Sie mich Dazugehören
wie Sie dazugehören
auf jeder Seite Weltgeschichte.

Erfahrungen in und mit Europa bzw. Europäern thematisiert Subramiam in vielen Texten, ebenso innerindische Reiseerlebnisse wie die gemischte Identität von „Mrs Salim Sheikh”, einer Eisenbahnbekanntschaft.

Wenn man nicht weiß, dass am 12. März 1993 eine antimuslimische Gewaltwelle Mumbai erschütterte, versteht man nicht, was Menschen wie die beispielhaft beschriebene Akademikerin aus der Mittelklasse zum Konvertieren – vom Islam zum Hinduismus – bewegt. Der Hinweis fehlt in Brocâns Kommentaren, ebenso der zur Bedeutung der Anschlagsserie im November 2008, der Subramaniams Mumbai-Gedicht „Meine Stadt und ich” vorangestellt ist.

Weitere Themen sind die Auseinandersetzung mit dem bedrohlichen Wachstum der Großstädte inklusive der Vermüllung des Landes („Dinge”) und der Baupolitik („Die Lobby des Bauherrn”). Subramaniam setzt Gigantismus und den Druck der Masse in Kontrast mit den spirituellen Traditionen Indiens, sie übt Kritik am Lifestyle der indischen Mittelklasse und bringt zur Sprache, was die moderne städtische Inderin, sowohl ihren Alltag als auch ihr Selbstverständnis betreffend, von ihrer Mutter und Großmutter unterscheidet.

Wegen ihres Gewaltpotenzials wird der urbane Moloch – die 18-Millionen-Megacity Mumbai gilt als größte Stadt der Welt – wie ein Raubtier gesehen („Die Stadt und ich”). Gleichzeitig ist sie selbst Opfer der grassierenden Gewalt. Im zuletzt genannten Gedicht führen erst die islamistischen Anschläge vom 26.-29. November 2016 die Identifikation des Ich mit seiner/ihrer Stadt herbei – selbstzerfleischerisch.

Dabei ist die koloniale Vergangenheit stets enthalten, unter deren Spätfolgen Indien noch leidet, nicht zuletzt in Vorurteilen; im Selbstverständnis der InderInnen nicht weniger als im europäischen Blick auf sie. Wenn in „Leere Seite” die Augen des Anderen wie ein Kartograf und Eroberer über das Lyrische Ich herfallen, durch „Erdolchen” der Stille deren „weiße Alleinherrschaft  brechen” möchten, wird dem Leser die fatale Lage klar, in der sich die nunmehr dritte postkoloniale Generation Indiens befindet. Das Erbe der Geschichte ist noch lange nicht getilgt. Arundhati Subramaniam steht dafür ein, dass es dazu vor allem selbstbewusstes Beschreiben eines leeren Blatts braucht, am besten in Gedichten.

Subramaniam hat u.a. eine Anthologie indischer Liebesgedichte herausgegeben. Liebesgedichte enthält auch Brocâns Auswahl, aus weiblicher Perspektive. Mein Favorit: „Die Art, wie du ankommst”. Brocân wählt für die deutsche Version ein zweideutiges Verb, was vermutlich im Original nicht der Fall ist.

Neben Erinnerungen aus Momenten des eigenen Lebens, darunter olfaktorische Eindrücke und vom Monsum verdichtete Gerüche, sind bei Subramaniam Lese-Eindrücke hellwach. Ein Gedicht ist etwa Jane Austen gewidmet, die um Segen für „meinen Geliebten und mich” gebeten wird.

Kritische Gedanken u.a. zum Kasten-Denken  – Subramaniams Familien gehört den Brahmanen an – fehlen nicht. Wenn auch skeptisch, ist der Blick auf die Umgebung bei Subramaniam durchaus liebevoll: „Wo ich lebe” beschreibt einem Nicht-Inder mithilfe von Farben und Düften, was den Alltag in einer indischen Stadt ausmacht. Es ist eine sinnliche Ode.

Daneben behandeln Texte wie „Archivarin” und „Strategin” die Stärken einer Frau. Obzwar Arundhati nichts dagegen hat, wenn man sie eine Feministin nennt, würde ihr sanfter Tonfall, dem Vergleich mit dem fordernden einer europäischen Frauenrechtlerin, das nicht nahelegen. Die Stimme Arundhati Subramaniams ist allerdings bei aller Milde beharrlicher, selbstbewusster. Weil es die Stimme einer Publizistin ist, die ihre Sprache an die Öffentlichkeit richtet, endet sie nicht mit der Aufforderung zum Widerstand gegen etwas, sondern fordert - sich - auf: „Bewohne das Verb!”

Die Haltung ist nicht konfliktfrei. In „Nein" kommt der Preis des Friedenhaltens aufs Tapet: das wütende Innere der Frau, deren einzige duldbare Reaktion das Verweigern ist. Funktioniert frau im Alltag nicht wie von der Umgebung gewohnt, entsteht Reibung durch passiven Widerstand. Auf den Buchrücken geprägt (und  auf den Schutzumschlag gedruckt), gibt es etwa die Passage:

Und in Vollmondnächten
wagt sie es sogar,
der Welt direkt
ins Gesicht zu sehen
und zu sagen:
Nein.

Kein Wunder: Als Schülerin war das lyrische Ich noch ein Wildfang, der sich einen Fluchtweg zum Ausreißen vom Schulhof an den Arabischen Ozean herausgenommen hat („Seiteneingang”).

Schon allein, um die Haltung zu verstehen, deren Kraft aus der Unerschütterlichkeit kommt, sollte man/frau sich die von Jürgen Brocân vermittelte Arundhati Subramaniam zu Gemüte führen.

Ihre „Forderung” richtet die Dichterin jedoch nicht bloß an sich und keinesfalls an die Gesellschaft. Hier ist die spirituelle Seite gefragt. Sie wendet sich an „o Gott”, dass er  Mut verleihe, nicht „hübsch in Styropor verpackte Verse” zu fabrizieren, sondern geistiges „Strecken, Trampeln, Dreckmachen” ermöglicht. Dichtende hätten vielmehr den Anspruch:

Wir sind hier, um die Ordnung wieder einzusetzen,
um den Stimmen – von Büchern, Liebenden,
Lehrern und Zollbeamten –
ihren Ort zuzuweisen.

Per definition ist ein religiöser Mensch einer, der an eine Ordnung glaubt. Subramaniams Konfession heißt Poesie. Was ihre Texte auszeichnet, ist die große Ruhe, aus der sie hervorgehen und die sie zeitlos wirken lässt, selbst wenn Duftschwaden und Verkehrslärm in ihnen Gegenwart wachhalten.

Neben ihrer vollständigen Ausgeglichenheit verfügen Subramaniams Gedichte über eine erstaunliche Autonomie des weiblichen Ich: Einmal setzt es sich mit den wieder leeren Räumen („Allein leben”) auseinander, dann wird mit  Verweigerungshaltung darauf reagiert, wenn KollegInnen es mit Mails und Anrufen unter Druck setzen („Nein”).

In einigen Texten versteht sich Subramaniam als Guru, d.h. geistige Lehrmeisterin. Zwar meint das mit „du” angesprochene Gegenüber manchmal den Geliebten; meist allerdings das ideale, vorbildhafte Ich, Gott. Ihn bzw. es findet sie schreibend. Dichten ist der Weg zur Eintracht zwischen Welt und Ich. Das intensivste Gedicht, bei dem das schreibende Ich sich selbst Guru ist, heißt „Schnelle Zettel für schwierige Tage”. In neun Strophen erfolgen Ratschläge an den dichtenden Menschen wie:

1.
Beseitige aus
Kleidern, Kissen, Büchern, Briefen
die Keime des Verlangens –
das Verlangen, daß die Dinge
mehr bedeuten müssen, als sie tun.

Fordere das Senkrechte.

„Das Senkrechte” ist die Haltung, die es für einen aufrechten Menschen braucht, sich dem Universum zu stellen. Den Gott, der hierbei zuhilfe gerufen wird, nennt Subramaniam „der Gott des Reisens” („Wenn Gott ein Reisender ist”). Man könnte auch vom Geist des Reisens sprechen, wie ihn Susan Sontag in ihrem letzten Essay auf die Frage: Wozu brauchen wir Literatur? – beschworen, nein: geschildert hat, wo steht:

„Ein Reisender zu sein - und Schriftsteller sind oft Reisende - heißt, ständig an die Gleichzeitigkeit der Ereignisse erinnert zu werden, in der eigenen Welt und der anderen Welt, die man besucht hat.”

Soweit eine verstandesgemäße, westliche Erklärung.

Befragen wir den in Subramaniams Oeuvre zentralen Text genauer: Ein Gott reist, umrundet die Welt, wobei er „Revolutionen, Versprechen, das verzweifelte Licht / der Shopping Malls” sieht. Er kehrt heim, „bereit, die Welt noch einmal zu umrunden.” – Einem solchen Gott müsse  man vertrauen, meint Subramaniam; denn er kennt die wahre Bedeutung einer Reise bzw. einer Umleitung.

In einem Interview erklärt sie, dass die Idee zu dem Gedicht einem Archetypus zugrundeliegt, der ihr als Kind in Form eines Hindu-Mythos nahegebracht wurde:

“Stories you grew up with suddenly deepen within you. You realise, ‘By gosh, this is where it is connecting!’ The Muruga myth was one such. It is an archetypal story about quest. <...> Lord Shiva asks his two sons to fetch the fruit of knowledge by circling the world. Ganapathi circles his parents, saying they mean the world to him while Lord Muruga, “being the literal guy” actually tours the globe. “I love that moment when he says, ‘What is the point of my journey?’, and Shiva says Muruga himself is the fruit of knowledge. But would he be able to hear that before he left? I have a feeling he would not. It is not about the destination; it is about making that journey and arriving there,” so im Originalton Arundhathi.

So exotisch ist nun Indien auch wieder nicht: Abendländer kennen die Konstellation aus Hiobs Gottsuche. Goethe stellt sie an den Beginn von „Faust I”. Am Beginn unserer Literatur verkörpert Odysseus eine solche Suche, dann die Ritter auf ihren Bewährungsproben unterwegs zum Gral. Der Weisheit letzter Schluss lässt sich zur Binsenweisheit „Der Weg ist das Ziel” herunterbrechen, um jetzt nicht auch noch Janoschs weises Kinderbuch: „Oh wie schön ist Panama” zu bemühen.

Einige der übersetzten Gedichte lassen sich nicht ganz erschließen. Bedauerlicherweise fehlen die Originale in dem Buch. Beim letzten – und stärksten – Gedicht des Bandes wird es am deutlichsten: „Gedichtstoff” macht der Übersetzer aus „Poems Matter”, einem Gedicht aus Subramaniams preisgekröntem letzten Band. Es geht um die Frage, ob Gedichte eine Rolle spielen, wie Brocân in den Anmerkungen auch einräumt. Subramaniam stellt sie nur in der Bildsprache um das [Subramaniam mag englisch schreiben; denken tut sie möglicherweise nicht englisch. Vielleicht gibt es auch in ihrer Denksprache die Analogie von Textil und Text, die – mit der Bedeutung: Gewebe – aus dem Griechischen stammt, denn Erzähler wie Homer verwebten ihre Stoffe zu Sagenteppichen, Epen. Siehe dazu meinen Text „Der Rote Faden”, der 1998 den Siemens-Preis gewann.] Textilmaterial: Naturfaser oder, praktischer, Kunstfaser? Naturfaser ist in Indien seit Gandhi, der das Selbst-Spinnen zum Boycott der Importe vom Kolonialherrn propagierte, eine Staatssache des Selbstbewusstseins. Ein Fernsehinterview mit Subramaniam nutzt den Originaltitel für die Frage nach der Bedeutung von Poesie. Subramaniam antwortet mit Zeilen aus dem, vom Übersetzer irreführend „Gedichtstoff” betitelten „Poems Matter”: Im Gedicht würden die freigelassenen Stellen am Ende der Zeilen, die es von Prosa unterscheiden, „Luft <...> umarmen” als auch den Blick auf den Himmel freigeben. – Mir kam beim Lesen von „Gedichtstoff” das Thema mit dem löchrigen Beschreibmaterial bekannt vor. Ich hatte das irgendwo schon, besser formuliert, gelesen. In meinen Tagebüchern wurde ich fündig: Klar! Bei meinem Aufenthalt in einer Artist Residency in Jashipur/Indien stellte ein frankokanadischer Kollege ein starkes Gedicht vor, das er soeben aus dem indischen Englisch ins Französische übersetzen wollte, und das mit der Zeile endet:

poems matter        
because they have holes.

Die Dichterin, von der die Aussage über die Relevanz von Poesie in unserer Gesellschaft stammte, wollte er in der darauffolgenden Woche bei einem Kongress in Calcutta treffen. Er staunte nicht schlecht, dass mir ihr Name etwas sagte: Hatte ich Arundhati Subramaniam ja selbst in meine Sprache übersetzt!  Auf diesem Schnappschuss hat jemand den Augenblick festgehalten: François Hébert hat Subraniams Gedichtband auf dem Schoß, daneben sitzen ich und die amerikanische Malerin Alexandra Carter:

Über Brocâns Version grübelnd, rief sich die Originalzeile in meine Erinnerung. Die mit der Überschrift idente Abschlusszeile „Poems Matter” meint eindeutig: Gedichte – sind wichtig, kommen sie auch als Luftmaschen daher!

Noch zwei Gedichte betreffen das Dichten: In „Für ein ungeborenes Gedicht” geht es um den für Außenstehende uneinsehbaren Antrieb zum Schreiben, in „Decoded” um den Sinn von Gedichten und die Schwierigkeit ihrer Übermittlung.

Da ich beide Gedichte auch selbst übersetzt habe, seien hier neben Brocâns Variante das Original und meine eigene Version gestellt:

Arundhathi Subramaniam
Die Stadt brandete gegen mich
Übersetzung:
Jürgen Brôcan
edition offenes feld
80 Seiten · 17,95 Euro
ISBN:
9783842336711

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