„C´est toute ma vie“ – „sich das Leben nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes unternehmen“
Charlotte Salomon entschied sich für das „ganz verrückt Besondere“. Sie schuf binnen eineinhalb Jahren ein riesiges Gesamtkunstwerk. Unter dem Titel „Leben? Oder Theater?“ (1940-1942) beginnt sie ihr Mammut-Projekt: Sie malte ihr Leben in über 1000 Blättern, die zudem mit Text versehen und mit Musik angedacht waren: Ein „Singespiel“, das eine wahre Meisterarbeit ist. Trotz ihres Entschlusses, sich nicht das Leben zu nehmen, war ihr Leben kurz. Sie wurde 1943 im Alter von 26 Jahren in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Bereits 2001 erschien das vorliegende Buch von Astrid Schmetterling über die jüdische Künstlerin Charlotte Salomon erstmals. Nun hat sie es neu überarbeitet. Anlass war der 100. Geburtstag von Charlotte Salomon am 16.4. Im Buch sind außer Malereien auch einige wenige Fotos der Malerin abgebildet.
Charlotte Salomon wird 1917 als Tochter des Arztes Albert Salomon und Franziska Grunwald in Berlin geboren. Sie ist ein aufgewecktes, doch von starken Stimmungsschwankungen geprägtes Mädchen. Im Alter von acht Jahren begeht ihre schwermütige (aus heutiger Sicht depressive) Mutter Suizid. Charlotte gegenüber spricht man nicht von Selbstmord. Das wird sie erst viel später von ihrem Großvater erfahren. Charlotte wird nun von Kindermädchen und den strengen Großeltern betreut. Der Vater bemüht sich, ist aber ganz in seiner Arzttätigkeit absorbiert. Eines der Kindermädchen erweckt in Charlotte die Lust auf das Zeichnen und Malen. Fortan wird diese Neigung Charlotte ihr Leben lang begleiten.
„Weibliches Sprechen, Schreiben, Malen, als zulassen anderer Blickwinkel und Deutungen, als Sprechen vom Ort der Frau aus, jenem Ort, der zugleich innerhalb der sozialen Ordnung ist und außerhalb, zugleich eingegrenzt, in die Grenzen gewiesen, und ausgegrenzt.“
Astrid Schmetterling gelingt in ihrem Band über Charlottes Leben und Kunst vor allem auch eine weibliche Betrachtungsweise. Zusätzlich legt sie den Focus auf das Dasein als Jüdin in Zeiten des Nationalsozialismus. So verlässt Charlotte die Schule ein Jahr vor dem Abitur, wegen der zunehmenden antisemitischen Anfeindungen. Dass Charlotte es einige Zeit darauf schafft in der Kunsthochschule in Berlin angenommen zu werden, in einer Zeit in der Juden fast keine Möglichkeiten und keine Rechte mehr haben, ist allein Charlottes Tatkraft und ihrem starken Willen zuzurechnen. Selbst als sie es beim ersten Mal nicht schafft, versucht sie es ein zweites Mal. Und es gelingt. Als ihr jedoch dort ein 1. Preis aberkannt wird, eben weil sie Jüdin ist, verlässt sie sofort die Akademie.
„Es ist diese gewaltsame Realität, von der Charlotte Salomons brüchige Sprache erzählt. Gegen die nazistische Einheits- und Ganzheitsrhetorik setzte die Künstlerin Fragmentierung und Vermischung, behauptete sie mit ihrem Werk ihre Differenz, ihr Anderssein. Als Jude, als jüdische Frau, als jüdische Frau im Exil.“
In vier Kapitel gliedert Astrid Schmetterling das Buch auf: Bildteil, Vorspiel, Hauptteil, Nachwort, vielleicht in Anlehnung an ein Theaterstück.
Im umfangreichen Bildteil eröffnet sich gleich die große Ausdruckskraft der Charlotte Salomon. In ihren Malereien zeigt sie ihre besondere Eigenart – heute würde man ihre Art vielleicht in die Sparte der Graphic Novels einordnen – sie malt auf Papier mit Gouachefarbe auf einzelnen Blättern fortlaufende Ereignisse wie in einer Bildgeschichte. Nicht immer sind sie mit Text versehen. Falls doch, hat Charlotte sie mit dem Pinsel ins Bild integriert oder Zwischenblätter eingelegt. 32 Blätter hat Astrid Schmetterling für das Buch ausgewählt, Bilder die die große Vielfalt von Charlottes Kunst widerspiegeln.
Im zweiten Kapitel weist Schmetterling darauf hin, dass Charlottes Werke oft nur als zeithistorische Dokumente wahrgenommen wurden, ähnlich des Tagebuchs der Anne Frank. Glücklicherweise, schreibt sie, hat sich das inzwischen verändert: Bekannt gemacht in den letzten Jahren durch mehrere Ausstellungen in den verschiedensten Ländern, auch auf der documenta 2012, wird Salomons Arbeit endlich als ernstzunehmende Kunst beachtet. Mittlerweile wird Salomons Stück sogar als Theaterstück, Oper und Ballett aufgeführt. Die Reduzierung auf ein rein biografisches Werk hält die Autorin für falsch. Charlotte hat Fakten mit Fiktion geschickt verwoben.
[…] ein komplexes Werk aus biografischen und fiktiven Elementen, das davon zeugt, wie sehr sich Charlotte Salomon der Täuschungen bewusst war, denen sich ein erinnerndes Ich beim Versuch, sich selbst zu schreiben und zu malen, unterliegt.“
Charlotte Salomons vielschichtige Bilder sind schwer einzuordnen. Der Vielfalt liegt vermutlich die Tatsache zugrunde, dass sie sie aus ihren zwei Lebenswelten zusammensetzte: Aus Heimat in Verbindung mit der Zeit im Exil in Südfrankreich. „Auflesen und Wiederverwenden“ nennt es Schmetterling im Buch.
„Eine Frau sitzt am Meer. Den Rücken uns zugewandt, malt sie. Sie malt das tiefblaue Wasser und den Sand, den endlosen Himmel und das Licht. Das Blatt auf ihrem Schoß erscheint jedoch durchsichtig. Als sei es kein Bild, sondern nur ein Rahmen, der ein Stück vom Augenblick umfängt. Ein Rahmen, in dem Abbild und Wirklichkeit ineinanderfließen. Leben oder Theater? Diese Frage ist der Frau auf den Rücken geschrieben.“
Dieses hier von der Autorin beschriebene Bild scheint ein Schlüssel zu sein, der die Tür zu allen anderen Bildern, ja zum Leben Charlottes öffnet. Es entstand in Südfrankreich, wo sie sich in ein kleines Hotel am Cap Ferrat zum Malen zurückgezogen hatte. 1939 war Charlotte aus Berlin geflohen und kam zunächst zu den Großeltern nach Villefranche. Dort nimmt sich Charlottes Großmutter 1940 das Leben. Kurz darauf bringt man sie und den Großvater ins Lager Gurs. Doch sie kommen wieder frei aufgrund des hohen Alters des Großvaters. Charlotte schafft es anschließend nur mithilfe der Malerei eine tiefe Krise zu überstehen. So beginnt sie wie eine Getriebene mit ihrem Lebensprojekt „Leben? oder Theater?“, an dem sie fast zwei Jahre lang malt, die Schlüsselszenen ihres Lebens in Farbe festhält.
Astrid Schmetterling berichtet weiter, dass Charlotte ihre Arbeiten wie ein Theaterstück inszeniert: Alle Figuren gibt es im eigenen Leben, sie werden jedoch umbenannt, erhalten teils skurrile neue Namen. So nennt sie ihre Stiefmutter, die Opernsängerin Paula Lindberg, die sie verehrt und liebt, in ihrem Stück Paulina Bimbam. Ihr Vater heißt Albert Kann. Der Gesangspädagoge ihrer Mutter und gleichzeitig angehimmelter Geliebter Charlottes, Alfred Wolfsohn, trägt den Namen Amadeus Daberlohn. Charlotte schwebt als allwissende Erzählerin über den Geschehnissen. Viel Ironie steckt hinter dieser Vorgehensweise.
Sie bindet auf vielen Seiten Anweisungen für die Begleitmusik mit ein. Diese reichen von klassischer Musik über Opern bis zum aktuellen Schlager. Bei der Textauswahl finden sich oft Sprichwörter zwischen Bibelpassagen und Zeilen aus klassischer Literatur – Goethe, Dante, Rilke etc. Charlotte ließ sich von einigen Künstlern aus verschiedensten Epochen inspirieren. Ihre Bilder enthalten beispielsweise Elemente der mittelalterlichen Buchmalerei, gleichwohl aber orientierte sie sich an der expressionistischen Malerei: Van Gogh, Gauguin, aber auch Chagall.
Nach Abschluss ihrer Arbeit für „Theater“ oder Leben?“ lebt Charlotte Salomon wieder in Villefranche. Trotz aller sie umgebender Widrigkeiten, die Nazis sind mittlerweile auch bis in den Süden Frankreichs vorgedrungen, heiratet sie. Mit ihrem Mann und dem ungeborenen Kind wird sie 1943 nach Auschwitz gebracht und ermordet. Sie hatte ihr Werk einem befreundeten französischen Arzt übergeben, der es bis nach dem Krieg aufbewahrte. Charlottes Eltern, die in Amsterdam in einem Versteck überlebten, übergaben es später einem Amsterdamer Museum.
Astrid Schmetterling ergänzt ihr Buch am Ende mit aufschlussreichen Anmerkungen und einer biografischen Zeittafel. Sie beleuchtet sehr differenziert Aspekte aus Charlotte Salomons Leben und Werk. Zusammen mit den Bildtafeln kann der/die Leser/in sich ein recht umfangreiches Bild von dessen Strahlkraft machen. Ein Wunder vielleicht, jedenfalls ein großes Glück, dass die Blätter erhalten blieben …
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