Das aufgerissene Auge des Mondes
In der Wüste nahe Beer Sheva brettert der Neurochirurg Etan Grien nachts mit seinem Jeep auf einer Piste durch die Nacht. Er hat neunzehn Stunden gearbeitet, ist übermüdet und euphorisch zugleich, hört laut Janis Joplin, bis plötzlich ein Eritreer aus der Dunkelheit auftaucht, den er überfährt. Mit der Begründung, der Mann würde sowieso sterben und es gäbe keine Zeugen, lässt er ihn einfach liegen. Wozu sollte er seine Karriere zerstören und sein Leben mit Frau und zwei Kindern aufs Spiel setzten?
Dies ist der Ausgangspunkt eines Romans, in dem die Protagonisten – und beileibe nicht nur Etan – einer Achterbahnfahrt existentieller Gefühle von Schuld, Reue, Liebe und Hass ausgesetzt sind. Denn Sirkit, die Frau des Eritreers, hat sehr wohl den Unfall gesehen und zu Etans Pech sogar dessen Geldbörse neben dem Verletzten – er heißt Assum – gefunden. Als sie ihn am nächsten Tag in seiner gepflegten Villa aufsucht, verlangt sie für ihr Schweigen, dass er nachts in einer Werkstatt heimlich illegale Einwanderer, sogenannte Infiltranten, behandelt. Ist es für Etan ab sofort schon schwierig genug, seine offizielle Arbeit in der Klinik mit der in seiner illegalen Arztpraxis zu vereinbaren, macht Ayelet Gundar-Goshen es für ihn noch komplizierter, indem sie Etans Frau Liat als Kriminalbeamtin mit den Augen einer Löwin den Unfall untersuchen lässt.
In der Wüste Negev und somit auch in Beer Sheva gibt es naturgemäß viel Staub und mit dieser Feststellung beginnt der erste Teil des Romans.
Der Staub war überall. Eine dünne, weiße Schicht, wie der Puderzucker auf einer Geburtstagstorte, die kein Mensch wollte. Er sammelte sich auf den Wedeln der Palmen, auf erwachsenen Bäumen, die von Lastwagen angekarrt und auf dem Hautplatz in den Boden gesteckt worden waren, weil niemand jungen Setzlingen zutraute, in dieser Erde Wurzeln zu schlagen;
Staub und Mond, diese starken Bilder durchziehen den gesamten Roman. Wie der Staub die Stadt bedeckt, so verdecken die Protagonisten ihre Gefühle und Handlungen. Auch für Sirkit, die oft Heimweh hat, ist der Staub Ursache für das, was ihr im Leben widerfahren ist:
Sirkit weiß, alles liegt daran, dass die Sonne bei ihnen hier auf der falschen Seite aufgeht, dass sie aus der Wüste kommt und ins Meer fällt. Die Sonne muss aus dem Wasser kommen, schön sauber.
Der Mond hingegen beleuchtet das Tun der Menschen.
Als er aus dem Jeep stieg, sah er sofort den Mond. Ein weißes aufgerissenes Auge, dem die Pupille entnommen war. (Und wenn der Mond voll ist, dann sind zwei Monate vergangen, Janis Joplin hat damals im Auto gewimmert, und draußen war ein Mann namens Assum, und du hast ihn überfahren.)
Zuerst allerdings überwiegt der Staub. Etan lässt sich erpressen, arbeitet im heimlichen „Krankenhaus“, voller Hass auf Sirkit, die ihn herumkommandiert, und voller Ekel für seine Patienten, die er nicht auseinanderhalten kann. Siat hingegen wundert sich anfangs nur über die vielen Nachtschichten und kümmert sich weiterhin um Haus, Kinder und vor allem darum, den Fahrer des Wagens zu ermitteln, der den Eritreer überfahren hat. Sie hat hohe moralische Grundsätze und hält Etan vor
»Ich begreife einfach nicht, wie jemand einen anderen einfach so sterben lässt, wie ein Hund.«
Ihr Zusammenleben geht vorerst einigermaßen normal weiter, aber bald kann Etan die Doppelbelastung nicht mehr ohne Weiteres bewältigen. Er verstrickt sich sowohl in der Klinik als auch zu Hause in ein Geflecht von Lügen. Liat spürt eine zunehmende Distanz zwischen sich und ihrem Mann. Sie schützt sich durch das exakte Ritual der Haushaltsführung, die Wohnung ist ihre Festung, denn vor der Haustür lag ein verrückter Staat. Aber bald gelingt es ihr nicht mehr, Etans merkwürdiges Verhalten und seine Lügen zu ignorieren. Noch will sie ihm nicht nachspionieren. Und so meint sie in der Schlüsselstelle des Romans:
Dazu war sie nicht bereit, denn wenn sie jetzt damit anfinge, wäre sie nicht sicher, ob sie später damit aufhören könnte. Auf der Safarie in Kenia, nach der Hochzeit, hatte ihnen der Ranger gesagt, ein Löwe, der einmal Menschenfleisch gekostet habe, wolle nichts anderes mehr jagen.
Auch bei Etan brüllten Löwen in seinem Inneren. Längst fühlen Etan und Sirkit sich zueinander hingezogen. Aus Blicken wird Verlangen, aus Verlangen werden sexuelle Fantasien. Schläft Etan mit Liat, bedauert er, dass es nicht Sirkit ist.
Sirkit selbst ist allerdings nicht nur Opfer, sondern hat aus dem Tod ihres Mannes gehörig Profit gezogen, was zu einem dramatischen Finale führt. Denn um die drei Hauptpersonen hat die Autorin noch weitere, teilweise kriminelle Romanfiguren gruppiert, die Liat, Etan sowie Sirkit zusätzlich in schwierige Situationen bringen.
Ayelet Gundar-Goshen hat in bildreicher Sprache einen spannenden Roman geschrieben. Sie zeigt die klassische Situation, wie der Fehler eines Menschen, eine Lawine von Fehlverhalten nach sich zieht, die das Gleichgewicht des Lebens mehrerer Personen ins Wanken bringt.
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