Operation Unutopie
Ein Mann erwacht und sieht einen Huf unter seiner Bettdecke hervor lugen. Mit diesem kafkaesken Bild beginnt Benjamin Steins neuer Roman „Replay“, eine Erzählung auf dem schmalen Grat zwischen euphorischer Utopie und bitterer Dystopie. Auch, wenn der Huf nicht mehr ist als ein Zeichen, eine Illusion, er ist von immenser Wichtigkeit. Vor allem für die Entwicklung des Mannes: Die Makelhaftigkeit des eigenen Körpers dient Ed Rosen als zentrale Triebfeder bei seinem Drang, das menschliche Leben zu optimieren. Schon auf den ersten Seiten wird breitgetreten, wie das Zahlengenie unter seinem lahmen Lid leidet, sich gewissermaßen minderwertig fühlt. Die plumpe Psychologisierung seines Protagonisten erlaubt Stein, die zeitgenössische Digitalisierung der Lebensbereiche weiterzudenken. Denn auch wenn Rosen ein Wellnessprogramm durchläuft, sich mit maßgeschneiderter Kleidung eindeckt und seinen Körper mit Pilates stählt – erst als er einen Job beim körperlich missgestalteten Matana annimmt, kann er seine Fähigkeiten voll entfalten, die eigene Makelhaftigkeit beheben.
Nicht, dass die gravierend wäre, schließlich handelt es sich bei Rosen um ein fortschrittlich denkendes Genie, einen Vorzeigenerd, ein Arbeitstier, das mit Zahlen nahezu synästhetisch umgeht, Baudelaire zitiert und über Kunst konversieren kann, eine attraktive Freundin – praktischerweise Wirtschafts-, Fitness- und Informatikass in einer Person – an seiner Seite weiß. Aber der blass gezeichnete Charakter, dem Stein eine unbeholfene Redeweise – unfreiwillig komisch, werden e-Mails „postwendend“ beantwortet – in den Mund legt, möchte noch mehr. Zusammen mit Matana entwickelt er Technologien, die der Menschheit ihren Nutzen erweisen sollen. Es gelingt ihnen, seine Sehschwäche zu beheben und bald wird aus Rosen ein Beinahe-Cyborg, ein „Homo UniCom“. Das UniCom ist die logische Extrapolation aus all jenen Technologien, die bereits heute unseren Alltag bestimmen: Ein in den Körper integriertes Smart Phone, voll ausgestattet mit GPS und Aufnahmefunktion. Rosen braucht nicht aus dem Bett aufzustehen, um die neuesten Nachrichten zu erhalten, er bekommt sie direkt ins Gehirn geschickt. Die Technologie übernimmt so langsam den Körper und noch viel mehr den Geist – seine sexuellen Abenteuer mit Freundin Katelyn und der gemeinsamen Gespielin Lian kann er sich audiovisuell-sensorisch jederzeit in Erinnerung rufen, als „Replay“ lebensnah neu erleben.
Allein schon diese Möglichkeit zum absoluten Eskapismus wirkt bedrohlich und natürlich geht mit dem Anschluss der Individuen ans UniCom-Netz auch einher, dass sie überall und jederzeit leicht zu überwachen sind. Eine verheerende Konsequenz für die Freiheit des Einzelnen, die das Genie Rosen aus seinem Fortschrittsoptimismus heraus nicht zu erkennen scheint. Völlig unreflektiert betrachtet er die Entwicklung der „Corporation“ – ein erneuter Hinweis auf die im Roman omnipräsente Körpermetaphorik – vom Unternehmen zum Megakonzern mit Monopol auf „das Erdöl unserer Tage“, der Kommunikation. Der Megakonzern wird schnell zur regierungsähnlichen Institution und letztlich zum totalitären Überwachungssystem. Dabei gleitet Rosen unmerklich die heißgeliebte Kontrolle aus der Hand, denn obwohl das System auf die größtmögliche Transparenz abzielt – es wird selbst immer opaker. Rosen möchte sich das nicht eingestehen. Fest glaubt er noch daran, der Menschheit etwas Gutes zu tun. Selbst, als sich UniCom-Verweigerer in ghettoähnlichen Camps ansiedeln, als klar wird, dass es keine Ausstiegsmöglichkeit für die User gibt. Selbst, als zuerst seine Freundin zusammen mit Lian verschwindet und auch Matana dem außer Kontrolle geratenen Kontrollapparat den Rücken kehrt, flüchtet er sich in die heilen Momente seines Lebens, „Replay“ sei Dank.
Die schwache Psychologisierung des Protagonisten, die steifen Dialoge, die unglaubwürdigen Emotionen – sie machen „Replay“ zu einem schwachen Roman. Schließlich dienen sie nur als narrative Hilfsmittel für Stein, der sich Gedanken darüber macht, was es für uns bedeuten könnte, ständig vernetzt, immer wieder zur Optimierung gedrängt und zur unablässigen Kommunikationsbereitschaft gezwungen zu sein. Fixpunkt für Rosen ist die mythologische Figur des Pan, eine antike Antithese zur hochtechnologisierten Welt, in der er sich bewegt. Pan – ein Gott mit Hufen. Wie dem einen Huf, der zu Beginn des Romans unter Rosens Bettdecke hervor lugt, um ihn daran zu gemahnen, dass es noch eine Welt außerhalb des Cybernets gibt, dass auch körperliche Makel zum Leben dazu gehören und es vielleicht gefährlich ist, will man sie wegoptimieren.
Die Kerbe, in die Stein schlägt, ist ziemlich offensichtlich: Zwar will er den Fortschritt nicht verteufeln, doch möchte er ausformulieren, welche Konsequenzen daraus erwachsen können, wenn die Technik Überhand gewinnt. Interessant sind dabei die wirtschaftlichen Aspekte, die im Roman wiederholt angerissen werden. Die sozialen, politischen und menschlichen Szenarien, die Stein durch Rosens Worte entstehen lässt, erinnern frappant an Klassiker wie Aldous Huxleys „Brave New World“, in dem der US-amerikanische Kapitalismus der 1920er Jahre weitergedacht wurde und George Orwells „1984“, der sich an der perfiden Logik der Moskauer Prozesse und der stalinistischen Sowjetherrschaft orientierte. „1984“ findet auch seine Erwähnung, wird zum Argument – vorgetragen von Julian Assange. Hier zeigt sich allzu deutlich, dass Stein mit „Replay“ keinen SciFi im Sinn hatte, sondern auf literarische Traditionen und zeitgenössische Diskurse gleichermaßen rekurriert. Dabei schöpft er vorwiegend aus dem Pool der Diskussionen, die sich derzeit um Datenschutz, Zensur und Überwachung drehen. Nicht umsonst werden die UniCom-Verweigerer als „Anonyme“ bezeichnet, die Parallele zur „Anonymous“-Bewegung ist mehr als offensichtlich.
So bekommt der Roman essayistische Züge, seine Handlung ist völlig durchfunktionalisiert – zwischen Rosen und Katelyn mag es etwas wie eine Liebesbeziehung geben, mehr Augenmerk wird jedoch auf ihr sexuelles Verhältnis gelegt, schließlich zeigt es sich als verwertbarer in der Logik von Steins Überlegungen. Die kämen jedoch auch ohne narrativen Schnickschnack aus: Als Blogeintrag hätten sie sich vielleicht besser gemacht. Schlimmstenfalls könnte man den ganzen schwachen Roman und Steins Grundaussage auf einen einzigen Nenner zusammenstreichen: „Ich war immer davon überzeugt, dass eine transparente Gesellschaft auch eine totalitäre Gesellschaft ist.“ Der Satz stammt vom französischen Regierungssprecher François Baroin, er dient dem Roman als Motto. Um das weiterzudenken, hätte es die Geschichte um Ed Rose wahrlich nicht gebraucht.
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