Der ungeliebte Einzelne und seine Kollision mit dem System
Sämtliche Familienromane des 20. Jahrhunderts mussten den Vergleich mit Thomas Manns Buddenbrocks aushalten. Die Familienromane des 21. Jahrhunderts über die DDR müssen nun um den behäbigen Tellkampschen Turm drumrum. Das ist schade. Das ist ungerecht. Aber doch eine Chance: allen, denen der Turm zu festgefügt, zu absichtsvoll, zu eitel ist, kann man „Brüder und Schwestern“ von Birk Meinhardt in die Hand drücken.
Die Familie Werchow lebt in einer Kleinstadt in Thüringen, schon nach wenigen Seiten kann man, wenn man will, in Gerberstedt Pößneck erkennen, die Stadt der Gerber und Drucker. Der Roman wird von je einer Beerdigung umrahmt. 1973 wird der Großvater Werchow und 1989 der Vater zu Grabe getragen. Dazwischen liegen die Geschichten der Kinder. Die von Erik, der unbedingt im Außenhandel tätig sein will und fremde Länder sehen, er wird der Angepasste. Die von Matti, der seine unangepasste Lehrerin liebt und als Binnenschiffer auf den Flüssen der DDR langtuckert. Die von Britta, die ein Biermann-Gedicht an die Wandzeitung pinnt und dafür die Schule verlassen muss; sie geht zu einem Privatzirkus.
Immer wieder aber ist es die Geschichte des Vaters Willy. Er ist Betriebsdirektor einer großen Druckerei, die einen Großteil der DDR-Literatur druckt, auch sämtliche Schulbücher. Seine Anweisungen erhält er direkt von Berlin, auch die, sofort und ganz schnell und in Super-Qualität für einen Westverlag zu drucken. Was dafür liegenbleiben muss und wie er sich dafür rechtfertigt, bleibt Willy überlassen.
So wird ein bereits gedrucktes Kinderbuch nicht ausgeliefert, weil dessen Autor die Unterschrift gegen die Ausbürgerung Biermanns gegeben hat. Wenig später wird die gesamte Auflage gestohlen. Vom Autor selbst, der dafür zwei Jahre ins Gefängnis geht. Für eben diesen geschassten Autor soll Willys Druckerei einige Jahre später für einen Westverlag dessen Buch drucken. Solche DDR-typischen Absurditäten stellt Meinhardt in diese Familiengeschichte und schafft damit ein Sittengemälde, in dem die Mühen, die Träume des Einzelnen mit dem System kollidieren, das den Einzelnen nicht mochte.
Eriks Rücken ist für die Armee nicht geeignet, er musste eingezogen werden, damit für das Wehrkreiskommando die Zahlen stimmen, nach drei Monaten ist er frei. Er unterschreibt, dass er an die Armee keine Schadensersatzforderungen hat, er unterschreibt, dass er sich von seiner „opportunistischen“ Schwester distanziert, er unterschreibt, dass er nicht über sein Gespräch mit einem Stasioffizier sprechen wird. Dennoch geht sein Plan nicht auf. Er darf nicht ins Ausland, wenn überhaupt, dann höchstens in die sozialistischen Bruderländer. Er arbeitet in der „Werbung“, seine Abteilung wirbt für die DDR. Ein Oxymoron. Sein Büro ist der Taufraum der jüdischen Gemeinde. Bei einer Taufe muss er es räumen. Hier wird ganz nebenbei anhand des Handlungsortes der schwierige Umgang der DDR mit den Juden angedeutet.
Bruder Matti ist ganz anders. Ein Unangepasster, einer, der Wert auf seine Unabhängigkeit legt und dafür viel Unbequemes in Kauf nimmt. Er liebt seine Lehrerin, doch in den Sommerferien verschwindet sie in den Westen. Dass ihre Flucht schlicht verraten wurde und sie im Gefängnis sitzt, erfährt keiner. Gezielte Desinformation mit dem Ziel, das Vertrauen sich naher Menschen zu zerstören war eine bewährte Stasimethode. Meinhardt geht es nicht um Sensationen, ihm geht es darum, die Mechanismen zu zeigen.
Matti leidet, denn die Lehrerin Karin Werth hat ihm einen Tag Liebe geschenkt und in seinem Kopf etwas hinterlassen, ein „Aufsatzthema“. Als Binnenschiffer durchfährt er schöne Landschaften die sich in der Nähe von Betrieben und Kraftwerken als zerstört erweisen und er fängt an, seinen „Aufsatz“ zu schreiben. Möglicherweise ist Matti ein Alter Ego des Autors. Aber kein selbstverliebtes, anklagendes, selbstgerechtes. Nein, der Matti Meinhardts ist in seiner Unangepasstheit auch hart und ungerecht, unversöhnlich, besonders seinem Bruder gegenüber.
Die Geschwister wissen sie nicht, dass sie noch eine Schwester haben. An dieser Stelle liest sich der Titel des Romans „Brüder und Schwestern“ neu. Zu der Tochter der Geliebten hat Willy keinerlei Kontakt, dafür gibt es einen Kontrakt. Diesen findet Willys Frau und nimmt sich das Leben. Soviel Liebe der Autor auf den mit sich und anderen ringenden Willy zeigt, die nach dem Krieg von Russen vergewaltigte und seitdem versteinerte Frau ist knapp und hart skizziert. Dennoch wird die Tragik dieser Beziehung in ihrer Wort- und Gefühlslosigkeit, an der beide leiden, gezeigt. Wohl schmerzt es Willy, wenn er Britta wie früher, als der Spaß noch ein Spaß war, „meine Lieblingstochter“ nennt. Er zuckt zusammen, als Matti ihm das Romanmanuskript zeigt: „Das verschlossene Kind“. Er nimmt das Geheimnis mit ins Grab, eine einzige Person weiß Bescheid. Meinhardt, der am Ende des Romans nach exakt 700 Seiten ankündigt: wird fortgesetzt – hat viele Fäden ausgelegt. So viele, dass ein Rezensent sogar schon spekulierte, was im zweiten Teil passieren wird, als gäbe es an diesem ersten nichts weiter zu besprechen.
Der Autor springt in die Perspektive seiner Personen, besonders kunstvoll im ersten Beerdigungskapitel, in dem er die gesamte Personage des Romans samt des jeweiligen Konfliktpotentials beim Leichenschmaus vorstellt.
Er lässt mit leisem Humor Erik mit sich ringen, dass er auch mal „unangepasst“ sein möchte. Meinhardt nimmt seine Figuren ernst und verrät sie nicht. Selbst Willy, dem man in manchen Entscheidungen nicht folgen kann, wird nie preisgegeben, Lavierer wird er genannt und damit könnte selbst Willy leben.
Meinhardts Roman liest sich leicht und spannend. Seine bildreiche Sprache bleibt unbeschwert von lyrischen Konstrukten. Humorvoll, aber auch gnadenlos ist seine Auseinandersetzung mit der offiziellen DDR-Sprache, der Sprache der Funktionäre und der „Überzeugten“. Nebenbei ist er Chronist der Kalauer aus Volkes Mund, die wahrhaft bewahrenswert sind, weil auch sie Geschichte erzählen.
Beim Lesefluss störend erweisen sich allein die eingefügten Kapitel aus dem Romanmanuskript Mattis, weil sie den Leser aus der vielgliedrigen Haupthandlung reißen.
„Brüder und Schwestern“ hat es auf die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse geschafft. Auch wenn er den Preis nicht bekommen sollte, er ist für alle die eine besondere Freude, die sich in den Schwarz-Weiß-Malereien des Feuilletons über die DDR nicht wiedererkennen. Gespannt darf man auf die Rezeption unserer „Brüder und Schwestern“ im Westen sein, zu befürchten ist, dass der gerade dort überschätzte „Turm“ ihnen dabei im Wege steht.
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