Die schlechte alte Zeit
Wie man Goethe und die nach ihm benannte Epoche für die Nachwelt veranschaulicht, ist wohl eine Frage, die von jeder Generation neu beantwortet werden muss. Derzeit nähert man sich dem Dichterfürsten im Goethe-Nationalmuseum in Weimar zum Beispiel über dessen Hosenträger an, die dem Besucher nach dem Eintreten als eines der ersten Exponate präsentiert werden. Wie diese Herangehensweise der Vermittlung, dieses vom-Sockel-holen zu bewerten ist, soll den Besuchern der Ausstellung überlassen sein. Nicht zu leugnen ist jedoch diese merkwürdige Faszination, die Neugier wissen zu wollen, was Goethe drunter trug, was hinter der gut überlieferten, repräsentativen Fassade steckt. So erscheint es nur logisch, dass nicht nur in Bruno Preisendörfers Buch, sondern auch in jeder Rezension, so auch in dieser, darauf hingewiesen wird, dass Goethe, „nach allem, was wir wissen“ keine Unterhosen trug. Aha, wieder was gelernt. Denkt man zumindest.
Nein, man täte Preisendörfer Unrecht, wollte man sein Buch auf diese kalkulierten Lacher reduzieren, die das bildungsbürgerliche Zielpublikum sicher bereitwillig goutieren wird. Als Deutschland noch nicht Deutschland war heißt seine im Untertitel gleichlautenden Reise in die Goethezeit, die in bester Safranski-Manier versucht, nicht nur die Klassiker, sondern hier vor allem ihre Lebenszeit lebendig darzustellen, vielleicht sogar ein Stück weit erfahrbar zu machen. Ein Versuch, der schon aufgrund der beeindruckenden Recherchearbeit alles in allem gelingen musste. Neben dem Haupttext gibt vor allem ein sehr interessanter, auch sehr brauchbarer Anhang detaillierte Auskunft darüber, wie sich die Dinge zu Zeiten des Geheimrates verhielten. Mit welchen zeitgenössischen Nachschlagewerken bildete man sich, womit verdiente wer wie viel, wie teuer waren Brot und Butter im Schnitt und wie viel war gleich nochmal ein Klafter Holz?
Preisendörfer inszeniert sein Buch also wie eine Reise, bei der man sich zunächst einmal rückwärts durch die Zeit und schließlich vorwärts durch den merkwürdig zerklüfteten Raum namens „Deutschland“ bewegt. Das gelingt alles recht anschaulich, zunächst aber doch auch unspektakulär. Und das obwohl von allerlei Abenteuer durch Räuber und Wegelagerer, Zölle, Grenzkontrollen und Bestechungen die Rede ist. „Goethezeit war Chaoszeit“, so Preisendörfer. Recht hat er, doch in Sachen Unterwegssein kann das all jene, die um den Flickenteppich „Deutsches Reich“ zu jener Zeit wissen, kaum überraschen. Auch nicht die Tatsache, dass Postkutschen mit Holzrädern auf Straßen, die als solche gar nicht zu bezeichnen waren, nun einmal wackelten, klapperten und schepperten. Immerhin, so der Autor, „sitzen uns keine Teenager mit zu laut gestellten Kopfhörern gegenüber [...]“. Autsch.
Zum Glück setzt Preisendörfer seine Reise nicht in diesem Ton fort. Man könnte sonst allzu leicht glauben, er bediene die zweifelhafte Vorstellung, dass früher doch irgendwie alles besser war. Nichts könnte ihm wohl ferner liegen, auch wenn er das so explizit nicht schreibt. In den stärksten Kapiteln des Buches wird überdeutlich, warum die Goethezeit an sich fasziniert. Aber auch, warum es wesentlich besser ist, heute zu leben. Da genügt ein Blick aus der wackeligen Kutsche an die Wegesränder und vor die Stadttore, wo mitunter seit Monaten verwesende Leichen verurteilter Verbrecher grüßen. Ja, auch vor den Toren Weimars, diesem Zentrum aufgeklärter Geisteskultur. So grausam etwa die Seiten über Recht, Rechtsprechung und Hinrichtung jener Epoche daherkommen, so amüsant werden sie mitunter durch zeitgenössische Kommentare aufgelockert. Etwa durch Ferdinand Hommel, der sich 1778 zu folgender Anmerkung hinreißen ließ: „Demjenigen, der einen Dieb will hängen sehen, rate ich wohlmeinend, die Taschen zuzuknöpfen und die Uhr zu Hause zu lassen. Denn es wird unter dem Galgen gestohlen, welches nicht möglich wäre, wenn die Härte und sichtbare Strafe etwas abzuhalten im Stände wäre.“
Leider ist diese Passage aber auch ein Beispiel dafür, wie Preisendörfer gelegentlich eine wirklich gute Pointe liegen lässt, indem er hier zuerst Hommel mit der Aufdeckung dieses Paradox zu Wort kommen lässt und dann erst von der zeitgenössischen Überzeugung „sinnlicher Erziehung“ spricht. Schade. Ähnlich verhält es sich mit dem immer wieder stockenden Reise- bzw. Lesefluss durch den erkennbaren Detailfetisch an Haushaltsplänen, Einkaufslisten, Kostenaufstellungen etc. Verständlich zwar, dass einmal mühsam Recherchiertes auch mitgeteilt werden will. Schillers Ausgaben für Tabak, Wein und Bier lassen sich aber auch ohne nennenswerte Verluste einfach überspringen. Pardon.
Überspringen sollte man hingegen kein Wort im letzten und vielleicht interessantesten Kapitel Gesundheit, Krankheit, Tod. Hier gelingt am ehesten, was man mit Erfahrbarkeit vergangener Zeiten umschreiben könnte. Indem Preisdörfer vom Dilettantismus umherziehender Heiler bis hin zu den Schrecken der „Tollhäuser“ erzählt, bekommt man einen fast körperlichen Eindruck davon, was Medizin und medizinische Wissenschaft zur Goethezeit bedeutet haben. Zähneziehen und Aderlass erscheinen fast harmlos gegen die „heroischen“ Torturen, die (vermeintlich) Wahnsinnige über sich ergehen lassen mussten. „Zu den 'heroischen Mitteln', so die fachsprachliche Rubrizierung, zählen auch die Brenneisen: 'Bey der Anwendung des glühenden Eisens nimmt man ein zwey bis drey Finger breites Eisen […]; man bringt es im Feuer zu Rothglühhitze und fährt mit diesem auf dem Scheitel über die Fontanelle, welche zuvor gut abrasirt seyn muss, mehrere male hin und her. Zu gleicher Zeit müssen zwey Gehülfen, jeder mit einem glühenden Eisen über die Fußsohlen hin und herfahren. Der dadurch erregte Schmerz übersteigt begreiflich jede Beschreibung, er verliert sich indes nach und nach.' Nach dem Abfallen des Schorfs 'muß die Eiterung so langsam fortgesetzt und so lange unterhalten werden, bis nach und nach die psychische Gesundheit des Irren wiederkehrt.'“
Angesichts solcher Folterungen und anderer Versuche im Namen des Wissenschaft und Medizin kann man geradezu von einem Segen sprechen, kein Goethezeitbewohner zu sein. Das trifft auch auf viele Bereiche des alltäglichen Lebens zu, wie etwa der simplen, aber für heutige Verhältnisse unvorstellbaren Tatsache, dass man weder in Weimar noch sonst wo Leitungswasser, Strom und Zentralheizungen kannte. Preisendörfer schildert den damit einhergehenden, „klassischen“ Alltag sehr anschaulich, wenngleich sich eine große Erzählung nicht so recht einstellen will. Dennoch eine sehr lesenswerte Reise.
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben