"Die ganzen Namen sind auf kroatisch"
Die recht junge Form der graphic novel hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten als taugliches Trägermedium für historisch-biographische Kolportage-Gehalte erwiesen. Diesem Umstand verdankt sich eine ganze Reihe an Darstellungskonventionen, die die verschiedenen Modi der Zusammenschau von mehr oder minder journalistischer Wissensvermittlung und als authentisch avisierter Story zum Gegenstand haben: Übereinstimmung, Widerspruch, Un- und Gleichzeitigkeiten, Theorie-und-Praxis-Diskurse etc. Diese Konventionen setzen bei stringenten, romanhaften Geschichten an, die allerdings - unabhängig vom tatsächlich geschilderten Zeitabschnitt - eher als "Lebensgeschichten" zu denken sind denn als Heldenreisen im Sinne von Jospeph Campbell. Diese Konventionen (deren Entstehung ggf. zurückverfolgt werden könnte bis zum "Urtext" der modernen graphic novel, Art Spiegelmanns "Maus") haben ihre Berechtigung, bringen aber auch, wie in allen entwickelten Kunstformen, die Gefahr mit sich, als "Selbstschussapparat" auf jeden beliebigen Stoff recht gleichförmig angewendet zu werden.
Dies scheint mir im Fall von "Palatschinken. Die Geschichte eines Exils." geschehen zu sein. Nicht, dass man den Verfassern, der Fotografin Caterina Sansone und dem Autor Alessandro Toto, zwei in Paris lebenden Italienern, daraus einen Vorwurf machen müsste. So und nicht anders funktioniert eben auf dem aktuellen Stand der Entwicklung des Mediums ihrer Wahl, was sie sich vorgenommen zu haben scheinen: Sie erzählen umfassend und genau über das Exil der Familie von Sansones Mutter, die sich als italienischsprachige Bewohner der mehrsprachigen und umstrittenen Stadt Fiume/Rijeka genötigt sahen, nach Gründung der Republik Jugoslawien nach Italien auszuwandern.
Alles ist so, wie wir das von graphic novels diesen Zuschnitts zu erwarten gelernt haben: Wir erfahren erstens detailliert Neues über Lebenswelt und politische Geschichte der gegenständlichen Zeitpunkte und Orte - also: über Flüchtlingsunterkünfte in Italien während der fünfziger Jahre, über Palermo, Neapel, Triest; über die Situation im unmittelbaren Nachkriegsjugoslawien. Zweitens lernen wir einige BewohnerInnen dieser Orte gut kennen und finden uns in der Lage zu Empathie und Nachvollzug. Drittens gibt es eine Rahmenerzählung in der Jetztzeit, welche die Entstehung des vorliegenden Buches selber behandelt, also die Motivation und die persönlichen Umstände der Verfasser nebst Begebenheiten bei der Recherche und lehrdialoghaften Erläuterungen zur Haupterzählung.
Nun spricht nichts gegen die Verwendung eines funktionierenden Formenapparates. Doch Sansone und Tota scheinen sich auf diesen Apparat und die Stringenz, die er zu generieren im Stande ist, ein bisschen zu sehr zu verlassen. Denn die Entscheidung, die Geschichte von Elena und ihrer Familie so zu erzählen, dass die Stationen dieser Geschichte "verkehrt herum" aneinandergereiht sind - zuerst die späteste, zuletzt die früheste Episode; zuerst die Wirkung, dann die Ursache - stiftet tendenziell Verwirrung, aus der uns nur die Formelhaftigkeit des Ganzen zwischen Rahmenhandlung, Privatgeschichte und historischem Zusammenhang rettet. So aber wird unsere Aufmerksamkeit beim Lesen weggelenkt von den Figuren, von den hochinteressanten historischen Details und von den Überlegungen, die die Verfasser in der Rahmenhandlung anstellen, und statt dessen hin zu den technischen Aspekten des Erzählens, zu den Schrauben und Sollbruchstellen des Aufbaus.
Ein weiterer individueller Touch von Sansone und Tota am formalen Aufbau ihres Bandes neben der umgedrehten Erzählanordnung ist die Bedeutung, die sie Sansones Fotos von den Schauplätzen der Exilgeschichte ihrer Mutter in dem Band zumessen: Zusammen mit alten Schwarzweissfotos aus dem Album der Mutter Elena und Reproduktionen von Archivmaterialen (amtlichen Dokumenten und Zeitungsausschnitten von Anno Dazumal) bilden sie grob geschätzt ein Viertel des Buchumfangs. Es ist dieser Einfall, der vollkommen "funktioniert". Neben der reinen Vermittlung von Geschichtswissen (zum Beispiel, dass es in Capodimonte ab 1947 eine Barackensiedlung für Flüchtlinge gab, die über die Jahre immer mehr von bedürftigen Einheimischen genutzt wurde und die man erst 1992 abriß) sind es die Fotos vom heutigen Zustand der "Originalschauplätze", die bei mir von dieser Lektüre hängen bleiben werden.
Vielleicht sollte dazugesagt werden, dass der Band die Brisanz seines Themas - des Umgangs europäischer Gesellschaften mit Flüchtlingen und Exilanten - für die politische und gesellschaftliche Großwetterlage des Jahres 2015 nicht anspricht. Dies ist zwar schlicht dem Umstand geschuldet, dass das italienische Original bereits 2012 erschienen ist (zu welchem Zeitpunkt es zwar schon eine Flüchtlingskrise auf dem Mittelmeer gab, aber noch niemand, zumindest noch niemand in verantwortlicher Position, absehen konnte bzw. wollte, welche Ausmaße diese Krise noch annehmen würde). Gleichwohl verstärkt diese scheinbare Unaufgeregtheit (es ginge ja bloß um Vergangenes) die Wirkung dieser "Geschichte eines Exils", wenn wir sie mit den Bildern kontrastieren, die uns derzeit die Nachrichtensendungen täglich frei Haus liefern. "Palatschinken" erinnert uns damit daran, dass "das Flüchtlingsproblem" vor gar nicht allzu langer Zeit in einer entschieden innereuropäischen Variante existierte - einer, die in gerade unseren gesamteuropäischen, aufgeklärten Familiengeschichten noch häufig genug ihre Spuren hinterlassen hat. Insbesondere für diesen Hinweis dürfen wir Caterina Sansone und Alessandro Tota danken.
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