Drunken on Bernkraft
Dem Rezensionsexemplar liegt die handschriftliche Bemerkung der Mitübersetzerin Astrid Nischkauer bei, ich könne mich jederzeit telefonisch genauer über Zustandekommen und Konzept des Bandes informieren lassen. Das weckt natürlich den Ehrgeiz, ohne solche Auskunft – i wo, machen wir gleich "ganz ohne Google" draus! – schlau aus diesem umfangreichen Buch zu werden, von dem ich mir fast sicher bin, dass es den Titel "Charles Bernstein = Karl Elektric. Gedichte und Übersetzen" trägt. Fast sicher, denn: Es gibt mehrere Titelseiten, und jenes der zur Auswahl stehenden Impressi (Plural!), das nicht offensichtlich literarisch überformt ist, bezieht sich auf das Buch nur als Teil der Übersetzungskunst-Reihe "Versatorium".
Also. Was liegt vor? – Texte aus mehreren Büchern des bedeutenden Produzenten von language poetry, Charles Bernstein, nebst Übertragungen (der meisten?) dieser Texte ins v. a. Deutsche, wobei das Wort "Übertragung" (im Gegensatz zu "Übersetzung") hier im Sinne ganz unterschiedlicher Freiheitsgrade zu verstehen ist. Es ist auch nicht so, dass sich (ohne, s. o., Google zu benutzen) auf die Schnelle ersehen ließe, wieviele (v. a.) deutschsprachigen Autor_innen da Übertragungsarbeit geleistet haben: Zwar gibt es eine Seite, auf der fein säuberlich die Kürzel vermerkt sind, die neben den jeweiligen Texten auf ihre Urheber verweisen, aber auf der Liste stehen neben eindeutigen Kandidaten – Bernstein selbst, Peter Waterhouse, Astrid Nischkauer – auch beispielsweise "Altstoffsammelzentrum", Wassily Kandinsky, Sergio Leone. Und wenig überraschenderweise ist es auch nicht so, dass das jeweilige Original und das jeweilige (v. a.) deutschsprachige Gegenstück fad-benutzerfreundlich neben- oder direkt hintereinander angeordnet wären. Wir müssen die (aus unterschiedlichen Richtungen mit Zahlen zwischen 209 und 470 nummerierten) grob 250 Seiten vielmehr als Gesamtkunstwerk lesen, im Sinne eines der abgedruckten Texte Bernsteins:
Be always drunk. That's all: that's the only question. So not to
feel the horrific heaviness of Time weighing on your shoulders,
crushing you to ground, you must be drunken ceaselessly.
But on what? On wine, on poetry, or on virtue, in your fashion.
But drunken be.
Dann lassen wir uns drauf ein, durch diesen Wust zu taumeln; die Art der Aufbereitung verbietet die museale Besichtigungstour, Distanz und "Verstehen" haben Pause, die Sprache selbst arbeitet vor sich hin, und ihr zu folgen, macht durchaus Arbeit, aber durchaus nicht unwillkommene Arbeit – der Mühe vergleichbar, drunken zu einer Musik tanzen zu sollen, deren Struktur man nur so zirka versteht.
Hat man so gelesen, lässt sich im Nachhinein konstatieren: Dass die durch-einander montierten Übertragungen ungefähr jenes Repertoire von Permutationen an Bernsteins Texte anwenden, das diese wiederum, "im Original", gegen die Grundlagen von Verstehen und Syntax in Anschlag bringen. Allerdings – und das ist für den Eindruck, den das Buch hinterlässt, entscheidend – erscheinen die "Originale" sozusagen aus einem Guß, sind noch auf eindeutig bezeichenbare Weise in mitteilender Sprache verwurzelt (schaffen es zum Teil gar, siehe obiges Zitat, zugleich Mitteilung und L=A=N=G=U=A=G=E-mäßige Spielanordnung zu sein), während die Bearbeitungen in dieser selben Weise bloß noch auf das Bernsteinsche Textkorpus bezogen sind, nicht mehr aber auf eine (sprachliche, materielle) Welt ausserhalb dieses Korpus, will sagen: Der Bernstein ruht inmitten, und die Bearbeitungen schlagen in sehr unterschiedliche Richtungen hin Funken. Nicht umsonst finden wir an mehreren Stellen, nicht zuletzt im Klappentext, den Hinweis auf die Herkunft des Wortes "Elektrizität" als die Bezeichnung jener Kraft, die geschichtlich zuerst beobachtet wurde als das statische Knistern beim Reiben eines Stücks Bernstein [Neulatein: Electrum] – dieses scheint die Vorgabe des ganzen Bandes zu sein.
Das ist viel, und mitunter geil, und doch fragen wir uns mitten drin öfter mal, ob da nicht einfach eine mit unmäßigem Aufwand an Hirnschmalz und Buchdruckerkunst hergestellte, bloße Kontemplationsübung für rettungslose Lyrikopfer und Lit-Wissler vorliegt …
… und da wir so fragen, fragen wir falsch. Denn die Kontemplationsvorlage, sich den multiplen Doppel- bis Quadrupelcodierungen zu überlassen, läuft, so wie zumindest ich diesem Fluß folge, auf ein Herzstück / Kernstück hin, welches uns dann geradezu als Widerlegung jenes Statements in Bernsteins Text "Palukaville" erscheinen darf, wonach
Class struggle is certainly not furthered by poetry itself.
Das Kernstück, von dem ich rede, ist der Text "Asylum" nebst seinen drei weit divergierenden Übertragungen: Eine planvolle Verstümmelung bürokratischer Rede und zugleich der Rede über Bürokratien, die das Einsperren/Überblicken/Institutionalisieren von Menschen zum Gegenstand haben – von Internaten und Kaseren über Flüchtlingslager bis zu Gefängnissen und KZs. Was zwischen den Auslassungen übrigbleibt, aus denen der Text vor allem besteht, ist genug, um uns den Gedanken nahezulegen, es sei in allen diesen Kontexten die soziale Wirklichkeit soweit und auf so komplexe Weise von der nötigen Mindestanforderung an ein vernunftgeleitetes Zusammenleben entfernt wie die Sprache und Ordnung dieses Bandes von linearer Aussagesprache.
Eine der Übertragungen von "Asylum", ausgewiesen als Nachdichtung ("nach Charles Bernstein") stammt von Miriam Rainer und benutzt Bausteine aus den hahnebüchenen Begründungen eines negativen Asylbescheides, um sich Bernsteins Text anzunähern. Sollten wir partout keinen Spass an dem poetrybetrunkenen Lesen und neu-Lesen und wieder und wieder anders-Lesen empfinden wollen, das der Band uns rundherum anbietet – so reicht zu seiner Empfehlung schon alleine hin, dass er uns geradezu pädagogisch an die volle Härte und Tragweite dieser einen Nachdichtung heranführt.
ÜbersetzerInnen: Amer Alkojjeh · Katharine Apostle · Simon Arshaulidze · Gabriella Attems ·Charles Bernstein · Antoine Cassar · Julia Dengg · Helmut Ege · Franziska Füchsl ·Nino Idoidze · Alain Jadot · Daniel Lange · Katharina Lehner · Sophia Léonard ·Sergio Leone · Mathias Müller · Natalie Neumaier · Astrid Nischkauer · Mirjam Paninski· Marlies Peter · Gregor Pirgie · Miriam Rainer · Felix Reinstadler ·Kevin Saliba · Dimitri Smirnov · Mariam Tchvritidze · Nina-Victoria Truskawetz · Peter Waterhouse · Jennifer Weiss · Alexander Wöran · Anna Zalesko
Buch bestellen: Versatorium - Verein für Gedichte und Übersetzen · Geusaugasse 39/2 · 1030 Wien · transl@versatorium.at
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