Hierarchie des Landlebens
Als Thomas Bernhard 1987 eine Sammlung von Christine Lavants Gedichten beim Suhrkamp Verlag durchsetzt, um diese große Dichterin vor dem vollständigen Vergessen zu bewahren, hat die Erzählung „Das Wechselbälgchen“ bereits eine lange Odyssee hinter sich, und es soll noch einmal gute zehn Jahre dauern, bis sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. 1998 gaben Annette Steinsiek und Ursula Schneider das Manuskript, das sie aus den Archiven des Otto Müller Verlages geborgen hatten, gründlich editiert und mit einem Nachwort versehen, heraus. Fünfzehn Jahre später liegt die Erzählung in neuer Edition durch den Herausgeber Klaus Amann jetzt im Wallstein Verlag vor. Amann plant eine kommentierte Gesamtausgabe von Christine Lavants Werk, das vom Wallstein Verlag betreut werden soll.
Christine Lavant kam 1905 als neuntes Kind armer Leute im Lavanttal, dem sie später ihren Künstlernamen entlehnte, zu Welt. Von Anfang an war sie ein kränkliches Kind. Ihr Neffe schreibt in der Einleitung zum Nachlassband „Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben“, die fünf Jahre nach Lavants Tod 1973 erschien: „Krankheiten (Skrofeln, Lungentuberkulose, ein Augen- und Ohrenleiden) in ihrer Jugend, Schmerzempfinden als Dauerzustand, körperliche Unansehlichkeit als junges Mädchen machten sie zeitweise völlig hilflos und kraftlos. Sie lebte in einem Zustand ständigen Ausgeliefertseins [¡K]
Nach einer Ablehnung ihres Manuskripts, durch den anfangs wohlwollenden Grazer Leykam Verlag 1932, vernichtete Lavant sämtliche Schriften und gab das Schreiben für lange Zeit ganz auf.
Die ab 1945 entstandenen Gedichte erreichten durch die Vermittlung der Dichterin Paula Grogger schließlich den Verleger Viktor Kubczak, der Lavants Talent erkannte und ihr in einem Brief geschrieben hatte, dass „speziell eine der Erzählungen ohne Beispiel in der deutschen Literatur dastünde und dass er a konto dessen von ihr erwarte, dass sie einst für das deutsche Volk das würde, was Dostojewski für die Russen ist.“ So hat Kubczak Lavant zur Schriftstellerin gemacht. Nach einem Gedichtband und zwei Erzählungen im Brentano Verlag findet diese vielversprechende Verbindung jedoch ein Ende, weil der Verlag in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. Nach dem Tod Viktor Kubczaks verlangt Christine Lavant das Manuskript der Erzählung „Das Wechselbälgchen“ zurück, um es im Folgenden dem Otto Müller Verlag anzubieten. Obwohl sie mittlerweile zweimal den Georg Trakl Preis für Lyrik (1954 und 1964) und 1970 schließlich den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur erhalten hat, ist die Erzählung nicht zu ihren Lebzeiten erschienen.
Bei der vermutlich zwischen 1945 und 1949 entstandenen Erzählung „Das Wechselbälgchen“, handelt es sich um eine Erzählung im alten archaischen Sinn, in der Tradition der von Sagen, Mythen und Aberglauben geprägten mündlichen Überlieferungen. Eine Geschichte, die sowohl in den persönlichen Erfahrungen Lavants als armes Kind im Klima des Lavanttales verwurzelt ist, als auch in der Hierarchie des Landlebens mit seinen zahlreichen Verboten und Einschränkungen für die Knechte und Mägde, unter der unangefochtenen Autorität des Pfarrers bei gleichzeitigem Fortbestand von Aberglauben und Wundergläubigkeit.
„Das Lavanttal“, schreibt Christine Lavant im Mai 1957 an die dänische Journalistin Maria Crone, „war bis vor verhältnismässig sehr kurzer Zeit noch ein vollständig von aller Welt abgeschlossener Talkessel was zu sehr vielen Familienheiraten und daher Inzucht führte. Dies ergibt ein sehr sonderbares Schicksalsgefüge das für mein Empfinden sehr an nordische Sagas erinnert.“
Im Zentrum der Geschichte steht Zitha, „das Wechselbälgchen“. Lavant bedient sich dabei der Sage von missgestalteten, unersättlichen Kindern, die Unglück über das Haus bringen, in dem sie leben. Ein laut dem Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens an die 1000 Jahre alter Aberglaube, der europaweit verbreitet ist.
Nachdem Wrga, die Kuhmagd, nach einer vom Hofbauern verlangten Abtreibung durch den Sprung vom Heuboden, ein Auge verloren hat, hat sie nun ein Kind ausgetragen, daran dass es nicht spricht, lange nur krabbelt und überhaupt mißgebildet ist, gibt sie sich selbst die Schuld, denn lange Zeit konnte sie auch während der Schwangerschaft nicht auf den bitteren Tabak, den man ihr gegen ihre unerträglichen Schmerzen gegeben hatte, verzichten. Und so hatte „Wrga die Einäugige [¡K] ein Wechselbälgchen. Aber sie tat so, als ob sie das nicht wüsste und nannte das Bälgchen manchmal bei seinem schönen Namen“. Überhaupt liebt nicht nur Wrga das Kind, auch die Keuschen Kinder beziehen es in ihre Spiele ein, bei ihnen lernt es die drei Worte oder Wortgebilde, die es überhaupt spricht, und die gleichzeitig eine Zusammenfassung der gesamten Geschichte und ihrer Moral sind.
Ausgerechnet der Mann, der Wrga schließlich ein Leben ermöglicht, wie sie es sich nie zu erträumen gewagt hätte, als verheiratete Frau im fast eigenen Haus, versucht sie unermüdlich davon zu überzeugen, dass Zitha ein Wechselbalg sei, und sie es loswerden müsse. Die Hilflosigkeit Wrgas, die sich hin- und hergerissen fühlt, zwischen der einzigen Chance doch noch ein gesellschaftlich anerkanntes Leben zu führen und ihrer Liebe zu Zitha, ist ebenso eindrücklich und nachvollziehbar geschildert, wie das Erstaunen darüber, dass niemand Zitha ein Leid antut. Schließlich lebt Zitha mit ihrer kleinen Schwester Magdalena unter demselben Dach. „Wrga konnte manchmal ihr großes Erdenglück kaum erfassen, wenn sie die Kinder so sanft und freundlich vor sich spielen sah, wie richtige Herrschaftskinder in einer warmen und immer sauberen Stube.“ Manchmal kommt ihr dieses Glück so unheimlich vor, dass sie regelrecht erleichtert ist, wenn Lenz sie schlägt. Lenz, der immer noch keinen Heller für Zitha gibt, sie aber doch duldet. Bis er schließlich Wrgas Abwesenheit nutzt, um sich des unerwünschten Kindes zu entledigen, wobei er ihr ungewollt die Möglichkeit verschafft, zu beweisen, welche Größe, welcher Heldenmut in dem „Wechselbälgchen“ steckt.
Die Läuterung, das „Erbarmen“ der Geschichte, findet nach dem tragischen Ende Zithas in der kurzen, aber prägnanten Grabrede des Pastors ihren Niederschlag:
„Es hat Zitha geheißen, aber, - aber es hat sein Leben für sein Schwesterchen hingegeben... Amen!“
„Dieses Buch dokumentiert die Chronologie der Christine Lavant, die bis zu ihrem Tod weder Ruhe noch Frieden gefunden hat und die in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten war; es ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist.“ schrieb Thomas Bernhard in seinem Nachwort zu dem von ihm angeregten Gedichtband mit Christine Lavants Gedichten. Ein Glück, dass der Wallstein Verlag jetzt dort weitermacht, wo der Suhrkamp Verlag viel zu früh aufgehört hat.
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