Die Taschen der Tage mit Gedichten gefüllt
Der Hanser Verlag und die Stiftung Lyrik Kabinett München haben Christoph Meckel zum 80. Geburtstag mit einer Dünndruckausgabe seiner gesammelten Gedichte beschenkt, die durch ihren schieren Umfang verblüfft und einen Autor wieder in Erinnerung ruft, der nicht mehr unbedingt in dem Maße im Fokus gewisser Aufmerksamkeit steht, wie vor einem oder zwei Jahrzehnten noch, obwohl es ihm auch damals schon um „Unabhängigkeit von allem Betrieb, in einem Leben und Arbeiten ganz außerhalb eines sogenannten künstlerischen Milieus“ ging. Den Leser erwartet also, nach den Worten seines Herausgebers Wolfgang Matz, eine Reihe von Büchern, „wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, ein im Wortsinne buntes Sammelsurium zwar nicht aller, doch sehr vieler Möglichkeiten, die ein Buchgestalter besitzt“. In der vorliegenden Ausgabe mußte natürlich die Gestaltung des jeweiligen, oft auflagenkleinen und somit selbst für den Kenner raren Drucks vereinheitlicht werden, dennoch zeigt sich überall die Wandelbarkeit des Dichters, der zwar von Beginn an einen unverwechselbaren Ton anschlägt, diesen aber auf vielfältigste und interessanteste Weise zu variieren vermag.
Eine Unabhängigkeit vom Literaturbetrieb, wie sie der Herausgeber konstatiert, bedeutet freilich keine Ignoranz gegenüber Zeitgenossen. Christoph Meckel hat viele Eindrücke auf sich wirken und ins Werk einfließen lassen, ohne daß sich der geringste Verdacht eines epigonalen Nachschreibens ergäbe. Und genau dies macht dessen Offenheit und improvisatorischen Charakter aus, der sich mit dem einmal gefundenen Stil nicht zufrieden gibt und bei aller Treue zu sich selbst in immer anderen Facetten und Formen auftaucht. Daß Meckel zudem ein großer Leser ist, zeigt schon eine flüchtige Durchsicht der Überschriften — Trakl, Dylan Thomas, Mörike, Melville, Johann Peter Hebel, Malcolm Lowry, Oskar Loerke, Sadegh Hedayat sind nur einige Koordinaten, zwischen denen sich die Gedichte bewegen, ganz zu schweigen von den vielen Allusionen auf Whitman, Robinson Jeffers, Tuvia Rübner und zahllose andere. Meckels Gedichte isolieren sich nicht auf arrogante oder elitäre Weise, suchen vielmehr die Verständigung, wie sie um Verständlichkeit bemüht sind, und treten in einen literarischen Austausch und Dialog.
Unendliche Neugier ist der Antrieb, sich verschiedene Formen überzuwerfen, und auch hier verrät ein Blick auf die Überschriften, mit welchem Reichtum wir es zu tun haben und in welche Tradition sich die Gedichte gestellt sehen wollen: Ballade, Brief, Chanson, Epistel, Fragment, Gesang, Hymne, Lied, Ode, Rede — oder nur: Gedicht. So steht das Einfache, Schlichte neben dem Kunstfertigen, die Strophe neben dem Notat, das Prosagedicht neben Langzeilen. Angesichts dessen ist es beinahe unmöglich, von einer ‚Entwicklung’ des Stils zu sprechen, wie mit Vorliebe die Kritiker und Literaturwissenschaftler, als sei der Lyrik eines Autors von Anfang an ein telos eingeschrieben, eine Evolution hin zu höherem ästhetischen Wert. Manches ist im Spätwerk allerdings unbestreitbar souveräner, doch es ist niemals routiniert, da stets für die Mitwelt empfänglich und aufgeschlossen. Wenn Christoph Meckel den gesammelten Gedichten den Titel seiner ersten Veröffentlichung überwirft, „Tarnkappe“, verschwindet der Urheber damit nicht hinter den eigenen Worten, sondern lugt aus der Camouflage als ein nur scheinbar Anderer hervor, denn eine Vielgesichtigkeit ist aussagekräftiger als das Beharren auf einem ‚Personalstil’.
An dieser Stelle muß von Tonlagen die Rede sein. Sie sind ähnlich vielfältig wie die Gedichtformen. Natürlich kann Meckel in bitterem Ernst sprechen, gesellschaftskritisch, zeitkritisch, lebensnah und trauerschwer, er kann jedoch auch die Tarnkappe gegen die Schellen vertauschen und sein „Lirumlarum“ singen oder mit einer absurden, am Surrealismus geschulten Bildlichkeit überraschen. Die Tragödie spielt immer in Sichtweite der Komödie. Genau diese Abwechslungen und Schattierungen machen die gesammelten Gedichte zu einem lebensprallen, lebenswirklichen Buch. Man könnte sicherlich auf seinen mehr als neunhundert Seiten oft gewechselten Fährten und inhaltlichen Spuren folgen. Aber wären ein paar Stichworte nicht eine mutwillige Reduktion? Und wie sollte man Zitate finden, die derart stellvertretend wären, daß sie nicht nur das Gedicht repräsentieren, dem sie entnommen sind, sondern gleich eine ganze Richtung? Christoph Meckel, aus der Deckung seiner Tarnkappe heraus, wie die wahrsprechenden Narren auf dem Theater, scheut keine ironische Schärfe und beschönigt nichts, packt aber die Schönheit, wo immer er sie zu fassen kriegt, beherzt an beiden Händen. Wenn man eine Konstante benennen müßte, dann wäre es wohl diese.
Meckel mag etliche Züge eines literarischen Einzelgängers haben, dennoch befindet er sich nicht außerhalb seiner Gegenwart. Dreißig, vierzig Jahre alt sind einige der Gedichte, sie können die Epoche ihrer Abfassung nicht vollends leugnen, haben aber trotzdem keine erwähnenswerte Patina angesetzt. Sehr vieles ist durchaus frisch und beinahe unverbraucht, jedenfalls unverkrampft und zum Teil von bestürzender Aktualität („Andere Erde“: „Gerne werden wir uns der verbrauchten Welt / erinnern, als die Zeit sich vermischte / mit Monstern und Engeln“), denn Meckel hat die richtige Balance zwischen dem Zeitbezug und der Überzeitlichkeit gefunden. Das geschieht mal in sehr leisen, zarten Tönen („Reiher“), mal in mächtigem Wortdonner („Ballade von Ozeans Beerdigung“), bald frech, bald zierlich, bald mit Wortspiel, bald mit Reim, hier verschmitzt und dort melancholisch. Nach wie vor erfreuen die kürzeren, beschreibenden Naturgedichte, ergreifen die Weheklagen um die Flüchtigkeiten der Liebe, läßt sein Plädoyer gegen die Konsumwelt den Leser mitempören. Warum das Haltbarkeitsdatum vieler Gedichte Meckels ins Künftige verschoben ist? — weil hier nichts in Pose von hoher Warte aus ergrübelt ist, sondern weil im Gegenteil der noch zitternde Moment ins Flüssigharz der Zeilen gegossen ist, konserviert für ein lesendes Nacherleben.
Bleibt, wenn nicht zu hoffen, so doch zumindest zu wünschen, daß der Hanser-Verlag auch in Zukunft dem einen oder anderen Lyriker einen solchen Dünndruckband gönnen möchte, den man wie ein Schatzkästchen voller Überraschungen öffnen kann — wäre nicht beispielsweise Johannes Kühn ein heißer Kandidat dafür?
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