Weggucken? Hingucken!
Das ist ein Buch, das man nur zögernd aufschlägt. Der Titel klingt so gefährlich: LEBEN. Und man weiß, es geschieht in diesem Buch eine Lebertransplantation, och, da möchte man am liebsten weggucken, hat man doch selbst so seine Schwierigkeiten mit dem Leben. Und man ahnt, dass man gebeten wird hinzugucken – in ein fremdes Leiden.
Krankheiten haben in der Literatur eine große Tradition und es hat auch schon vor einigen Jahren einen Feuilletonisten einer großen Tageszeitung gegeben, der forderte: „Lasst mich mit eurem Krebs in Ruhe“. Im Schlussteil des heißdiskutierten Artikels fordert der Autor: „Erzählt vom Leben“. David Wagner tut in seinem neuen Roman, in dem es sich schon im Titel ankündigt, genau das.
Der Ich-Erzähler beginnt mit der „Apfelmus-Nacht“, wie er sie später nennt. Die Nacht, in der er beim Apfelmus-aus-dem-Glas-Löffeln gestört wird von dem Blut, das herauswill, erst in seine Badewanne, dann dem Notarzt auf die Brillengläser. Bei diesem Krankenhausaufenthalt wird klar, er kommt auf die „Liste“ für eine Transplantation. Seine seltene Lebererkrankung bekam er bereits als Kind, der Mittedreißigjährige hat ein Leben in Krankenhäusern und mit viel Medizin hinter sich. Und er ist zwischen den ganzen Alkoholiker-Lebern der Station mit Abstand der Jüngste.
Dem Buch ist schon von außen anzusehen, dass es zwei Teile gibt. Im Buchschnitt ist nach einem Drittel ein grauer Strich, schlägt man das Buch an dieser Stelle auf, schaut man auf zwei Seiten mit grauem Fond. Vor und nach der Transplantation. Wagner strukturiert seinen Roman in 277 nummerierte Segmente und vier Kapitel. Das bringt Luft in das dicht Erzählte und erleichtert den Zugang. Zwischen die Kapitel setzt Wagner Auszüge aus den Befunden, deren medizinische Eigensprache schöne Assoziationen ermöglichen, wenn etwa von einer „reizlosen Narbe“ geschrieben ist.
Eher erstaunt registriert der Erzähler seine die Krankheit begleitende ewige Müdigkeit, seine Schwachheit. Er muss sich von der dreijährigen Tochter sagen lassen: „Geh doch richtig.“ Der Weg ins Bad gerät zur Reise. Er muss liegen und viel Zeit vergehen lassen, Zeit, in der er sich erinnert, wie er als 16jähriger gern seine Beerdigung vorgestellt hat, sein Tod aber nur inszeniert, er schaut der eigenen Beerdigung zu. Er gibt sich „Adrenalinstöße“, wenn er daran denkt, wie er als Jugendlicher mit einer Freundin von einem Baukran in 90 Meter Tiefe gesprungen ist, es war die „freieste Sekunde“.
Ambivalent ist die Zeit des Wartens auf die neue Leber. Er versucht sich den „Spender“ vorzustellen, seine alltäglichen Verrichtungen und dass er nicht weiß, dass er oder sie in ein paar Tagen, Wochen oder Monaten tot ist. Es gibt Zeiten, das findet er es ehrlicher nun doch endlich zu sterben. In dem Kapitel „Als die Kinder schliefen“, dem Kapitel vor der Transplantation, sammelt er in einer Mappe Todesmeldungen aus Zeitungen. Sie sehen aus wie Gedichte …
Seriennummer
Nur an den Seriennummern ihrer Brustimplantate
Wurde Sana Samotovih identifiziert
Der Mörder
Hatte ihr das Gesicht zerhackt
Die Fingerkuppen abgeschnitten
Und alle Zähne
Gezogen.
Über dreißig solcher Meldungen fügt Wagner aneinander. Eine abstruser als die andere, dass selbst der hartgesottene Vielleser das Buch aus der Hand legen muss, um Luft zu holen. Es bleibt dem Leser überlassen, warum der Kranke das tut. Ein Gegenschmerz? Es scheint ihm Erleichterung zu bringen. – Ein überraschender, ein starker Kunstgriff!
Im Danach-Teil wird der Erzähler begleitet von einem Du. Es ist in seiner Vorstellung eine Frau, die mit ihm im Bett liegt, die immer bei ihm ist, die er nicht mehr los wird. Es ist „der Spender“. Die Spende bleibt anonym, er weiß nicht, was den- oder diejenige getötet hat. In einem Brief wird er aufgefordert, sich bei den Angehörigen des Spenders anonym zu bedanken. Er stellt sich vor, dass der gleiche Tote noch andere Organe gespendet hat und dass er in der Rehaklinik vielleicht den Nieren oder dem Herzen „seiner“ Leber begegnet. Er wünscht sich sogar die Vergangenheit der neuen Leber mittransplantiert zu bekommen.
„Wie war deine Beerdigung?“ fragt er sein Du. Es gab vorher Zeiten, da wollte er sich gar nicht von seiner alten Leber trennen, seinem weißen Wal. Oder er wünschte sich, sie wenigstens beerdigen zu können. Nun, danach, möchte er nichts mehr wissen, von der größeren „arg verschrumpelten Kartoffel“.
Nach der Operation wähnt er sich in einem Zwischenreich, in dem er auch mit den Toten kommunizieren kann, mit seiner Mutter etwa. Und er schwankt zwischen Aufgeben „es ist genug“ und dem Glück: „Es gibt noch so viel da draußen“. Im Nachtschrank sammelt er Schlaftabletten, die im Krankenhaus großzügig verteilt werden, für „eine Party vielleicht“. Die Gegenstände in seinem Zimmer werden seine Gesprächspartner, die Krankengeschichten der Nachbarn hat er satt, er fordert die Stühle, den Boden, die Lampe auf mit ihm zu sprechen. Als eine Reinigungskraft seine Gesprächspartner, die Stühle unsanft räumt, tut das ihm weh. Und doch gibt er Reinigungskraft Recht, natürlich, er muss sich bewegen, etwas tun. Er beginnt zu schreiben, der erste Satz ist der erste Satz des Romans „Leben“. David Wagner hatte selbst eine Lebertransplantation. Das Buch könnte der anonyme Brief an die Angehörigen des Spenders sein.
Im ersten Jahr nach der Transplantation sterben ein Fünftel der Operierten. Und wenn sie es schaffen, dann müssen sie ihr Leben lang Medikamente einnehmen, sie müssen die Sonne meiden wegen Hautkrebsgefahr, sie müssen alles meiden, was Keime übertragen könnte, Salat, Menschenansammlungen, kleine Kinder. Der Leser denkt an die dreijährige Tochter des Erzählers, wird er ihr nur noch mit Mundschutz und Handschuhen begegnen dürfen?
David Wagners „Leben“ ist eine Erinnerung daran, wie kostbar es ist, das Leben und der Leser sieht, wenn er es will, wie kleinlich viele Dinge sind, die uns umtreiben und wie das Eigentliche an die Wand gedrückt wird. Welch ein Glück, dass es solche Bücher gibt, die uns einen neuen Blick auf uns selbst geben.
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