Kritik

Perfekte Texte

Hellwach, uneigentlich und unverfänglich.
Hamburg

„Seit zehn Ausgaben steht die Jahresanthologie des Deutschen Literaturinstituts Leipzig für jüngste deutsche Literatur, seit zehn Jahren gibt sie kontinuierlich Einblicke in das Schreiben der Studierenden – 2012 feiert die Tippgemeinschaft also ein rundes Jubiläum.“ So schreiben die Herausgeber auf ihrer Homepage und eingangs im Editorial dieses 288 Seiten starken Konvoluts incl. CD, das sehr kompakt daherkommt und gerade als Paperback richtig schwer in der Hand wiegt.

Darin enthalten: „neueste deutsche Literatur“ von 44 Autoren, wie der Rückumschlag verkündet. Vorne auf dem Cover sind Kopf und Schulterpartie einer fotografierten Puppe aus Pappmaché zu sehen, in deren Gesicht überdimensionale Zeitungslettern prangen; der kritisch und verängstigt wirkende Blick wendet sich vom Betrachter ab und geht stattdessen über den Betrachter hinweg ins Leere – „Highbrow“-Blick einer Gezeichneten?

Im Vorwort beschreibt Claudius Nießen anschaulich die Schwierigkeit, die Anthologie angesichts aller Deadlines immer wieder von neuem erscheinen zu lassen, und zeichnet den Weg vom „Küchentischverlag“ bis zum professionalisierten Vertrieb durch die Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Unabhängig ist die Tippgemeinschaft bis heute nicht nur in ihrer Finanzierung, sondern auch in der Auswahl der Texte. Das Institut entscheidet nicht über die Texte und mäkelt auch nicht am Layout herum. Das Institut stellt immer am Samstag der Buchmesse den Raum für die Buchpräsentation, die sich inzwischen zur großen Release-Party gemausert hat, sonst nichts. Was anfangs ein kleines studentisches Unternehmen war, hat sich inzwischen längst etabliert und scheint auch in punkto Erscheinen eine gewisse Eigendynamik bis hin zur Selbstverständlichkeit entwickelt zu haben. Man hat zum Anlass des Jubiläums einige „Ehemalige“ mit ihren Texten versammelt, wie Martina Hefter, Kerstin Preiwuß, Jo Lendle, Jan Kuhlbrodt u. v. m. Eine CD mit 13 Tracks liegt bei: ausgewählte Texte, von den Autoren persönlich eingesprochen.

Nießen Claudius 199x300 Nießen, Claudius kopfe
GF Claudius Nießen Quelle: DLL Leipzig

Allein schon der Titel Tippgemeinschaft war anfangs wohl heftig umstritten. Immerhin erregt er Interesse und ist hintersinnig, sofern man darin weniger eine Gemeinschaft bräsiger LOTTO/TOTO-Aspirant/innen (thematisiert auf dem 2011er Cover) sieht, die auf ihren Millionengewinn hoffen, als eine Gemeinschaft angehender Dichter/innen, die – synchron choreografiert? – beflissen in ihre Tastaturen hacken.

Doch wo anfangen? Die Bandbreite dieser schwergewichtigen Anthologie einzufangen ist so gut wie unmöglich. Der Band ist zu dick und er ist nicht nur im Wortsinn schwer. Er ist zu umfangreich, dabei zu guter „Stoff“, um auf jeden Text einzeln einzugehen; die Texte sind zu unterschiedlich, um es summarisch zu fassen. Es ist formal wie inhaltlich alles dabei und auch die Prosa und Lyrik in sich ist ganz individuell verschieden. Zwischen Miniatur, übersetzter Prosa, Reisetagebuch, „Erzählprojekt“ und Romanauszug findet sich experimentelle Lyrik neben Landschaftsdichtung an, die auch gar nicht herkömmlich ist. Wie das also adäquat darstellen? Es ist eine sehr heterogene, will sagen vielförmige Sammlung, ganz als sei sie auf ihre Vielformigkeit besonders stolz. Fast möchte ich ein neues Wort erfinden: abwechslungsreichhaltig. Das träfe den Nagel auf den Kopf. Es gibt keinen Text, den ich ungern gelesen hätte. Die Texte wirken hellwach und immer auf der Höhe des Jetzt. Um es gleich vorauszuschicken: Es lassen sich darin grob zweit Texttypen unterscheiden. Texte, die sich festlegen und Texte, die unverfänglich bleiben. Letztere überwiegen in der Sammlung.

Einige Schnappschüsse von Texten, die gut gelingen: Jan Kuhlbrodts Übersetzung von Keith Waldorps Die Gestalt der Brücke (Memory-Stand-ins) hat einigen Charme in philosophischen Reflexionen, die zwar gelehrig zwischen Simone Weil, Proust, Dante, Avicenna und Augustinus hin- und herswitchen, aber aus diesem großem Wissensfundus heraus sehr ausdrucksstarke Erinnerungen und Déjà-Vu-Erlebnisse erzählen. Bettina Wohlfenders elliptische, teils groteske Sprache erschafft in Unter ferner Winter ein sehr scharfes Bild eines Protagonisten, der gerade aus den absurden wortgewaltigen Sätzen heraus zu leben beginnt. Patrick Maisanos superstrada 106 steuert aus einer südländischen Plauderei, einem Zwiegespräch, wie es scheint, was denn alles so speziell und so anders ist in Calabria, sehr gut weil sehr mimetisch unmerklich auf ein kurzes Finale zu. In einem eingestreuten Nebensatz werden kurz und messerscharf die Flüchtlingsschiffe aus Afrika thematisiert, bevor sie im blubbernden Wortschwall im wahrsten Sinne des Wortes wieder untergehen. Julia Walters Die Tangente der Ratten erzählt mit grandiosen Bildern von der Massentierhaltung in einem modernem Landwirtschaftsbetrieb, beginnend mit der der Beschreibung des großen Zuchtebers: Ein Vieh mit Fußballhoden, das wohlig grunzte, wenn Marlenes Vater ihm mit einer Schaufel den Rücken kratzte. (…) Er knickte zuerst langsam und umständlich die Hinterbeine ein, als würde er eine große, wertvolle Porzellanvase absetzen. Die Geschichte endet mit dem kaltblütigen Ertränken von kleinen Rattenjungen, worin freilich auch Benn anklingt. Kerstin Preiwuß‘ Gedichtzyklus Claustrophien thematisieren gekonnt mit eindringlichen Worten die unruhige Suche nach Sprache, wie aus Worten Worte gemacht werden: auch in nur losem laut / aufkeimen seltsamer / silben manchmal /mit phonem-signal (…), eindrucksvolle Gedichte, die um Sprache ringen. Narrative Prosa, die relativ unverstellt wirkt, gibt es von Matthias Jügler, Harzer Knaller. Und auch Mein Abriss von Sarah Trilsch, die den Alltag einer Frau mit 3 Kindern eindrucksvoll und zugleich einfühlsam beschreibt. Manuel Stallbaumers Gedichte bringen inhaltlich einiges aufs Tapet entgiftungs / vorgänge ins gewebe / einmassierte detonationen // intime gefechtslagen (…) statisten & pestizidgerinnsel / schwer zu billigende aussichten oder / deren scheitern an den rändern von mülltonnen.

Handwerklich funktioniert in dem Band nahezu alles. Auch die eingesprochenen Texte auf der CD hört man sich gerne ein zweites Mal an. Die Bandbreite reicht von sehr gelungenen Expositionen, die einen sogleich in rasant beobachtende schlanke Texte  hineinziehen, über gute Beschreibungen mit hochatmosphärischen Bildwelten bis  hin zu recht gut gemachten Schlüssen. Sogar ein Interview ist darin, sowie ein Auszug aus einer Poetik-Dozentur. Viel außergewöhnliche Lyrik und außergewöhnliche Prosa also, geradezu mustergültig. Neben einigen Auszügen aus längeren Werken ist Kurzprosa vorherrschend. Diese reicht von osteuropäisch-charmant über italienisch-verschwurbelt bis hin zu experimental-verquast, alles aber immer im grünen Bereich: kritikwürdig sind daran allenfalls Marginalien. Die Texte haben allesamt enorm Zug. Man liest sie sehr gern und meist sehr schnell und wird dabei immer wieder von neuem überrascht. Es hat dennoch alles, was gute Texte brauchen, wirklich alles.

Und doch fühlte ich mich hin und wieder unbehaglich. Perfekte Texte? Das konnte ich nicht glauben. Und erst recht konnte ich mein Unbehagen nicht verstehen: hier sind doch endlich mal Texte, an denen es nichts auszusetzen gibt? Gar nichts. Dass hier wirklich jeder Exponentialsatz funktioniert, dass hier keine noch so winzige Länge zu finden ist, dass hier alles immer den Nagel auf den Kopf trifft, dass die Texttitel wohlabgewogen sind und auf den ersten Blick jedwede Teaserfunktion erfüllen, die sie haben sollen, dass es keinen mal eben unmotiviert hingeschriebenen Satz gibt, der keine Funktion hätte, daneben keinen Lyrismus, kein Klischee – das ist fast unheimlich. Wo ist also das Problem, wenn alles stimmt?

Dieses Mustergültige ist es, was mir während der Lektüre auch zunehmend suspekt wurde. Die Texte sind mir schlichtweg zu perfekt, zu mustergültig, um nicht zu sagen, irgendwie auch zu clean. Da wird allenfalls angedeutet, und andeutungsweise – mimikryhaft? – werden die schwierigen Themen bei den Hörnern gepackt, aber eigentlich schreibt man auch wieder ganz gern drum herum, denn man will ja vielleicht nur einen hübschen Text machen. So gibt es nicht wenig Texte, die sich einer Form des uneigentlichen Sprechens bedienen, wodurch sie sozusagen vieldeutig wird, A sagen, aber B meinen. Es bleibt allzu oft in der Schwebe. Etliche schillern Texte in diversen Lesarten, sind selten oder nie einfach 1:1 lesbar.

Wolfram Lotz‘ Einige Engelserscheinungen in Amerika stellen auf gelungene Art und Weise Aufzeichnungen eines gewissen Arthur Kaczinsky zusammen, der akribisch über Engelserscheinungen recherchiert hat. Journalistisch vorbildlich werden nun diese Episoden zu einer „Erzählung“ wahrer (?) Begebenheiten montiert, wann jemand in USA Engel gesehen hat. Es bleibt offen, ob das Ganze nur eine Geschichte ist oder ob es jenen Arthur Kaczinsky wirklich gegeben hat. Es spielt sicherlich auch keine Rolle, da die Montage gelingt, und auch die sozusagen aus universitären Aufzeichnungen nacherzählten Engelserscheinungen haben einige Poesie.

Sascha Machts Romanauszug Herrliche Tage funktioniert ganz ähnlich: im journalistischen Reportstil werden Katastrophen, Attentate, Bombenexplosionen an unterschiedlichen Schauplätzen auf dieselbe unkommentierte Weise wortgewaltig gegenübergestellt.

Ein Text, aus dem ich nicht so recht schlau geworden bin, ist Babet Maders Ich versteh nicht was ihr von mir wollt. Ein Text in Kleinbuchstaben, der enorm Geschwindigkeit hat, der in einem Fließsatz von A-Z durchläuft, ein Erzählstrom eines durchratternden inneren Monologs, schnittig und schön, der mich von der Erzählerpose her richtig wütend macht. Vermutlich soll er das. Schon der Satz der weg soll ja das ziel sein im ersten Absatz, als superkluge Reflexion der Ich-Erzählerin gleich zu Beginn, kündet an, wie dieser Text später in jedem Satz sagt: diese Welt, die ihr so gemacht habt, wie sie ist und in der ich mich wohlfühlen soll: ich hasse sie wie ich alles hasse. Da kostet jemand seine Opferhaltung in vollen Zügen aus. Es haftet diesem Text etwas Hybrides an, sehr jugendlich, sehr pubertär, gepaart mit Larmoyanz und einem permanenten pseudointellektuellen Sich-selbst-Kommentieren.

(…) ich habe mich noch nie damit beschäftigt meine eigene form von entspannung zu finden ich falle auf die gesellschaftlich anerkannten formen der entspannung rein vielleicht ist meine form von entspannung wände streichen oder cds sortieren wer weiß das schon die vorgegebenen entspannungsmethoden funktionieren bei mir jedenfalls nicht theater konzert essen gehen und sex das sind keine relaxmomente in meinem leben ich mach das alles aber es entspannt mich nicht drogen und feiern auch nicht das ist das anstrengendste was es gibt (…)

Der Text entrollt auf 7 Seiten die Tragödie eines jungen Menschen, dem im Grunde überhaupt nichts fehlt, wie es zunächst scheint. Man hat geradezu voyeurhaft Einblick in die Gedankenwelt einer komplett verkorksten Jugendlichen, es verstört fast ein bisschen, „live“ im Kopf dieser jungen Frau dabei zu sein, die sich in einer anmaßend-destruktiven Denke allerhand Luxuslaunen und auch den entsprechend luxushaften Selbstekel zugelegt hat, die begeistert zelebriert werden. Dabei ist sie zu feige, sich z. B. mit ihrer kranken Uroma zu beschäftigen, kennt sich politisch und geschichtlich nicht aus, reflektiert dümmlich über Nazis und das Erheben der Faust als politisches Symbol – zu bequem, um sich überhaupt mit etwas zu beschäftigen und unfähig, so scheint es, auch nur einen Satz zu denken, der einen Zentimeter über den eigenen ressentimentbehafteten Horizont hinausblickt. So etwas kann ich nur als gelungene satirische Rollenprosa lesen. Eine Deutung, die sich mir aufdrängt: Der Text soll aggressiv machen, soll dadurch kathartisch wirken, wenn man ihn liest, soll Jugendlichen vielleicht gar einen Spiegel vorhalten? Darin klingt auch Verzweiflung an, alles zu haben und doch nichts zu haben, nichts zu finden, was entfernt Erfüllung und Befriedigung gleichkommt. Und dennoch: wenn ich den Text auf diese Weise lese, als bittere Satire, der ansatzweise zynisch (weil wohlfeil inszeniert) auf all die Oberflächlichkeit jugendlichen Denkens und Lebens abhebt, befriedigt mich der Schluss nicht, wo diese desaströse Einstellung lediglich mit einer schlimmen Kindheit erklärt wird. Man darf freilich nicht vergessen: auch das ist ja auch nur die klischeehafte Reflexion derselben Erzählerin, die nicht wirklich eine Erklärung liefern kann, da sie ja sonst in der Lage wäre, einen Ausweg zu finden. Darin ist der Text sehr konsequent. Das Hauptproblem, das ich mit Babet Maders Text habe, ist, dass die darin geschilderte junge Frau nie eine Chance bekommt. Sie wird von vornherein heruntergemacht: knatschiger, verpäppelter Fratz durch und durch. Es gibt zu keinem Zeitpunkt eine Fallhöhe. Mit einer gewissen Schadenfreude wird diese Protagonistin in ihren Gedanken bloßgestellt, um nicht zu sagen systematisch denunziert, was bei der fortlaufenden Desavouierung der Figur dazu führt, dass man sich letztlich mit ihr verbündet. Am Ende ist man gespalten: berührt und wütend zugleich. Berührt von der Hilflosigkeit, wütend über die innere Haltung der Erzählerin.

Allein schon vom Format her schön zu lesen sind Ulrike Feibigs Miniaturen:

Das Kreuztier hinter dem Tuch (2)
Das Kreuztier ist in doppelter Hinsicht ein Kreuztier. Einmal, weil es meinen Weg kreuzt oder ich seinen Weg kreuze. Zudem trägt das Kreuztier ein Kreuz auf dem Rücken. Du sagst: Ich lasse mich doch von dir nicht aufs Kreuz legen. Das Kreuztier liegt hingegen gerne auf dem Rücken. Es zieht die Beine an und wartet. Manchmal mache ich es ihm nach.

Diese Kürzestprosa lässt sich als alles Mögliche lesen. Sie sind knapp, kurz(weilig), gelungen, ironisch, lesen sich sozialkritisch und geschlechterrollenkritisch. Sie haben auch dadurch, dass es von einem Text gleich 3 Versionen gibt, etwas Verspieltes und zugleich Unverbindliches und Unentschiedenes.

Aus dem Gedicht etliche tropn:

unter gesteinsschichtn /geröllhaldn lagertn: etliche tropn u.
halbwertszeitwörter, die dort – vielarms entsickert – im
innren, sich u. einander ergänzend, beinahe vergaßn
(…)

Man hat hier keinen Thomas Kling vor sich, sondern den viel jüngeren David Frühauf, der auch nicht die Tropen als äquatorialen schwülheißen Landstrich besingt, sondern eigentlich ganz literaturwissenschaftlich die Tropen als Formen des uneigentlichen Sprechens, also Ironie, Litotes, Metonymie usw. Inwieweit hier auch Hummelt an-klingt (oder umgekehrt) lässt sich nur vermuten, und durch das Aufgreifen geologischer Thematiken kann man die tropn durchaus auch als intellektuellen Kalauer lesen, als gelehrte Anspielung. Die Texte gehen weit über ein Epigonentum hinaus, schichten erdgeschichtliches Wissen um Sediment, Gestein und Geröll auf (ab-)raumkontexte – denn es käme einem umbrochnen versprechn / einer stillegung des atems gleich. Und dennoch man fragt sich, ob die Texte in summa ihren Vorbildern, die allein durch die Schreibweise herbeizitiert werden, gerecht werden können. Damit hebt Frühauf an Gewichten, die er unter Umständen gar nicht stemmen kann. Die Texte unterscheiden sie sich von Klings Gedichten rein formal schon dadurch, dass sie Satz von im Prosagedichten nie morphologisch umbrechen und innerhalb der Welt der Tropen und Strophen verharren, verschnitten mit der Tatsache, dass elektrisches Licht im Wechselstrom mit 50 Hertz flimmert, was das träge Auge nicht wahrnehmen kann. Lyrisches Her(t)zflimmern mit sich inwendig selbst kommentierenden lichten Reflexionen?

Norbert Lange thematisiert ein heikles Thema:

                                                                                                      Natürlich in Daktylen
Werde ich machen ein Gedicht aus reinem Nix wie sagt man?
Nicht über mich, auch von andren nicht. Von der einen Liebe, nein?
Vom Ältersein, oder etwas völlig Andrem?

Werde ich machen, auf Pferde wetten, weiß nicht, ein Gedicht?
Kann ich nicht einmal verstehen: wie zur Welt gekommen bin ich?

Weder machts froh, noch die Schnauze einem voll –
Bringt einen weder rein noch raus –
Kann ich nur machen dazwischen mit meiner Stimme –

So kam das gestern oben auf dem Sattel zu mir
Und ich habe nichts gemacht.

Hier wird, wenn auch anhand eines pidginhaften Slangs, der natürlich ein Instrument der gekonnten Verfremdung ist, der Konflikt einmal benannt, wenn auch ähnlich uneigentlich und unverbindlich; vermutlich wäre das in einer anderen Sprache gar nicht drin gewesen. So wählt Lange bewusst eine Form der leichten Ironie, die nur uneigentlich und dennoch humorvoll in ihrer ganzen Vagheit sagt, worum es geht.

Vielleicht ist das der Schlüssel dazu, was mitunter einen etwas flauen Nachgeschmack erzeugt. Bei allem lyrischen Furor und dem hohen Grad an poetischer Valenz, die in den vielen erstaunlichen Gedichten des Bandes zur Geltung kommt, verfestigt sich nach der Lektüre des ganzen Bandes dennoch der Eindruck, dass man sich im entscheidenden Moment lieber zurückhält und somit für die politisch korrektere Variante entscheidet. Es sind alles freilich nur Nuancen, derer man kaum habhaft wird; aber heraus kommt am Ende immer das etwas Korrektere, das ein wenig Sauberere, fast klinisch mit dem Retouchierpinsel saubergebürstet. An entscheidenden Stellen wirken die Texte, wo der weiße Raum um die Texte zum Tragen kommt, teils unentschieden und auch jedes Wörtchen wie auf der Feinstwaage abgewogen. Es ist nicht so, dass die Texte überkorrigiert wären; sie haben sehr wohl ihre Ecken und Kanten, man hat ja gelernt, das reduktionistisch stehen zu lassen. Es ist eher so, dass die Texte sich ständig rückversichern, ob sie denn auch gut und „OK“ sind, wie sie sind. Eine Ingredienz vorauseilenden Gehorsams liegt darin. Man will es nicht nur gut machen, man will es perfekt machen. Diesen Subtext lese ich mit. Je offener die Deutungsmöglichkeit, desto feiner ist der Autor raus, weil es ja dann nur der Leser ist, der alles Mögliche hineinliest.

Janko Marklein beschreibt in Lieber nicht, dachte Florian eine Liebesgeschichte auf dem Hintergrund von politischer Arbeit, die sich darin erschöpft, Deutschlandfahnen von Autos abzubrechen. Die Pointe ist, dass die Freundin des immerzu zaudernden Protagonisten Florian einen Freund hat, dessen Auto ebenfalls eine Deutschlandfahne ziert und der von ihrem Antifa-Engagement nichts weiß. In der flüssig und lebendig erzählten Geschichte geht es viel um Äußerlichkeiten, politisches Engagement wird mehr auf Schülerstreichebene verhandelt. So reflektiert der personale Erzähler, dass er eher der „Grüne-Jugend-Typ“ sei und ob er denn auch die richtige Klamotte trägt, wenn man im Leipziger Stadtteil Reudnitz die Goldstreifen der Deutschlandfahnen abreißt, um daraus die sozialistisch-anarchistische Flagge zu machen, mehr aber noch um beim WM-Special der Antifa den ersten Preis zu bekommen.

Aus dem Text von Konrad Feldschmid, Unten angekommen:

Wenn ich behaupte, Berlin sei ein Drecksloch, dann möchte ich klarstellen, dass es mir mehr auf die beschreibende als auf die wertende Kraft dieser Aussage ankommt. Dreckloch bietet sich an, weil – ja: Der Schmutz ist selbst mit viel Augenwischerei nicht wegzuleugnen, vor allem aber versinnbildlicht Drecksloch die neue Ausrichtung der Stadt.

Ein guter Einstieg. Ein guter Text. Das ist sehr originell und war so noch nicht da, aber es ist auch ein uneigentlicher und somit gewissermaßen unverfänglicher Text. Man kann ihm nichts wollen, weil er ein Fantasieberlin runtermacht, das mehr ein Legoland als eine reale Stadt ist. Denn der Subtext, der auch hier mitläuft, ist: Berlin ist toll und ich finde Berlin toll, gerade weil es versifft und abgewrackt ist. Das Problem ist ja: man darf nicht brav sein. Das ist unter allen Umständen zu vermeiden. Brav geht gar nicht, brav ist „uncool“. Dann lieber noch totale Überzeichnung und Mimikry, uneigentliches Sprechen? Tropen? Wo im stets Hellwachen das Adrenalin pulsiert, wirken die Texte oft genau da hübsch und harmlos, wo man sich gewünscht hätte, dass jemand aus vollem Herzen Tacheles redet. Hier wird zwar Tacheles geredet, aber eben, um zu überzeichnen und einen hübschen Text zu machen.

Ein anderer Eindruck, der sich nicht inhaltlich nachweisen ließe: Ich hatte immer wieder das Gefühl, fast spüre ich den Stress beim Schreiben, den die Texte gemacht haben. Die Texte schwitzen. Man war hochmotiviert, etwas Gutes abzuliefern, mehr noch, es richtig zu machen; es mehr als richtig: es perfekt zu machen. So wurde jedes Komma dreimal umgedreht. Die Texte bleiben oft da lieber unverbindlich, wo ich mir gewünscht hätte, dass sie „in die Vollen“ gehen. Unverbindlichkeit ist ja auch ein Statement. Oder eine Linie. Aber auch ein Trend: fast scheint es, als möge sich unter den jungen Dichtern niemand mehr festlegen. Was dann oft in harmlosen Nebenszenarien herauskommt. Lieber spricht man uneigentlich, denunziert seine Figuren: die bekommen es ab, was man selber nicht darf, die dürfen dann gerne auch  mit Fäkalworten denken und reden, 1:1 Aussagen treffen. Selten wird sich festgelegt, die Aussagen bleiben offen, man kann es so lesen, oder so. Oder aber auch ganz anders. Was aber nützt mir ein Text, der sich nicht festlegen will? Der nicht zum Punkt kommt? Ich vermisse bei vielen Texten etwas wie Endgültigkeit. Sich darauf verlassen, dass die Texte schon so funktionieren, wie man sie erdacht und gemacht hat, trifft man gar nicht mehr so oft an. Auch wenn es Leute gibt, die das anders sehen. Stattdessen wollen die Texte (außer ihren Protagonist/innen) niemandem weh tun. So enttäuscht es trotz aller handwerklicher Präzision, trotz aller Verve, trotz des hohen Grades der Durcharbeitung, den die meisten Texte haben, dass sie sich häufig derart unverfänglich geben, als wollten die Autoren heute alles, aber sich nicht festlegen. Dabei muss doch – wenigstens hänge ich dieser Poetik an – nicht nur das Schöne, sondern auch und vor allem das Unschöne gesagt werden. Das aber kann freilich immer auch nach hinten losgehen, weshalb haben wir so viele Dichter, die zwar rasante, hellwache, schnittige Texte schreiben, an denen handwerklich überhaupt nichts auszusetzen sind, die aber immer dann vage und mehrdeutig werden, wenn es um Inhalte geht.

Also bleibt man immer hübsch unverfänglich, und Juli Zeh hebt darin zum großen Finale an. So wirkt der Aufsatz am Ende der Anthologie, Juli Zehs Auszug aus der Tübinger Poetik-Dozentur, irgendwie nett, irgendwie auch sehr naiv, komplett konfliktfrei und im positiv-harmlosen Stil einer Laudatio gehalten, auch wenn man sich ständig fragt, wem zu Ehren. Der Literatur an sich? Der Menschheit und Brüderlichkeit? Sätze wie Wir alle sind literaturfähige Wesen, unabhängig davon, ob und wie viel wir literarisch lesen und schreiben oder Wir alle sind Götter in unseren kleinen subjektiven Universen, die durch das mysteriöse Wesen ‚Sprache’ miteinander vernetzt sind haben etwas Betulich-Niedliches und lassen sich als vollmundige Allgemeinplätze verbuchen, à la: Wie erkläre ich meinen verschrobenen Tick „Schreiben” der breiten, der ganz breiten Masse? Das Ganze liest sich wie eine Festschrift, vollmundig und salbungsvoll, und ist obendrein sogar ein Plädoyer für Musik, für Tanz. Inhaltlich ist alles darin eigentlich, zumal für Autoren, elementares Basiswissen; etwas Neues habe ich von dem ganze 10 Seiten andauernden Elaborat nicht erfahren; und die Passagen, wo die Autorin darstellt, wie man zum Schreiben kommt und wie sie ihre Initiation als Dichterin erlebt hat, wirken trotz der gelungen Schilderung, wie die Autorin den „Erzählerbazillus” (sic!) erfolgreich abgeschüttelt hat, genauso nett wie bilderbuchartig. Zehs Aufsatz hat trotz der humorvollen Art, wie man das alles hübsch und gefällig ans geneigte Herz gelegt bekommt, bei aller guten Laune, die es versprühen soll, etwas Klinisch-Steriles, das ich gar nicht näher orten mag und das von den einigermaßen hart geführten Gegenwartsdiskursen so weit weg zu sein scheint wie ein Platensches Ghasel von der getriebenen Intensität der Beatnikgeneration, die übrigens einiges, wenn nicht sogar alles riskiert hat. Und dabei immer Klartext geredet hat. Um das herauszufinden, besuchte ich das Deutsche Literaturinstitut, also eine Schriftstellerschule, an der man selbstgeschriebene Text in Seminaren vorstellt und traf auf die ersten Leser meines Lebens. Dazu kann man der Autorin nur herzlich gratulieren. Und wenn beschrieben wird, wie sich die Autorin beim Schreiben, Rotwein aus Tetrapaks trinkend, nächtens vom Jurastudieren erholt, klingt das eher nach Schutzbehauptung, doch (trotz aller Verspießerung durch das hölzerne Deutsch der tristen Juristerei?) (immer schon?) ein (kleines?) Fünkchen Boheme im Herzen getragen zu haben … und doch auch (zumindest ein bisschen) die Hemingwaysche Dichterexistenz geschmeckt zu haben. Karl May (neben Zehs Co-Autor Georg M. Oswald) als Referenz wirkt zusätzlich unglücklich und auch der (ver)alte(te) Sigmund Freud, dessen psychische Trinitas im Aufsatz (dann halt auch noch) herhalten muss, indem das dichterische „Es” der Autorin nachhaltig thematisiert wird, scheint anno 2012 nun auch schon ein (klein?) wenig in die Jahre gekommen zu sein. Selbst wenn es dann später, zuletzt, „aufgespießt” wird als „allgemeine Literaturfähigkeit” (bloß niemals nie elitär werden!), was so viel bedeutet wie „Phantasie – die Erinnerungsfähigkeit des Menschen, die ich mit unserer Fähigkeit zum Mensch-Sein gleichsetze“. Endlich hat uns das mal eine/r erklärt, und gleich mit so blumigen und treffsicheren Worten! „Träumen und Schreiben waren dasselbe, wie Spielen im Kopf.” Zeitlos schön. „Vielen Dank.”

Nun habe ich mich auch einmal des uneigentlichen Sprechens bedient. Auch dieser Text ist symptomatisch: Sich bloß nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Immer den Status quo als solchen akzeptieren. Nur das von sich geben, was gesichert ist. Niemals Klartext reden, immer „ums Eck“ sprechen, sich niemals festlegen. Sich lieber in vollmundigen, unverfänglichen Statements sonnen, die auf breiter Allgemeinverständlichkeit fußen. Konzise Aussagen Fehlanzeige. Als gälte es, unter allen Umständen zu vermeiden, öffentlich unbequeme Meinungen vertreten. Hinzu kommt, und das ist ein Punkt, den ich kaum über die Lippen bringe: ich lese allerhand Subtexte darin mit, auch gewissermaßen eine Form des uneigentlichen Sprechens. Je mehr mir Texte direkt und unverblümt sagen: Ich bin ein toller Autor, nehmt es bitte zur Kenntnis, anstatt mir einen guten Text zu liefern, wo ich selbst als Leser sage: das ist wirklich ein toller Autor, ich nehme es zur Kenntnis, umso mehr sind es für mich Texte, die sich um etwas anderes drehen als um ihr Sujet. Da rückt die Sache an sich, nämlich einen Text zu machen, der etwas aussagt und gut funktioniert, in den Hintergrund. Es gibt auch in der DLL-Auswahl einige Texte, die so funktionieren, die mir als Ego-Adapter ihrer selbst immer nur davon künden, was der Schreiber für ein versierter, wissender, gelehrter, toller Autor ist und wie sexy jemand mit Worten kann. Und auch Harmlosigkeit mitsamt dem Gestus, alle Welt zu umarmen, ist im Grunde davon nicht sehr weit entfernt. Da würde ich mir wünschen, dass die Texte mit deutliche(re)n Aussagen zum Punkt kommen.

Dagegen stelle ich einen Text von Hannes Fuhrmann, der mir durch die Kraft seine Bilder besonders gut gefiel.

(…)
und hier werden bilder gemalt werden korn für korn aufgetraubt
und hängen wie weisen die käfern sich ein die
treffen brennend ineinander die bemessen die nächte der sandburgen

dies schwindsüchtige
dies schwarz gekelterte königswasser
löst schwere reliefs in das gold deiner magenwände

Oft findet sich darin, als Kernaussage quasi, ein resignatives Statement, dass die Dinge so sind, wie sie eben sind. Daran lässt sich nicht rütteln. Texte mit gelungenen offenen Schlüssen, die einem doch einiges abverlangen, „mehrstimmige“ Texte, die dem Leser auf mustergültige Art und Weise alle möglichen Freiräume zugestehen, mehr als irgend notwendig Deutungsraum zugestehen. Texte aber, die Klartext reden und gleichzeitig konstruktiv etwas anbieten können, sei es eine Utopie, sei es eine Hoffnung, wie es anders sein könnte, die sozusagen etwas Schönes im Hintergrund aufscheinen lassen, und sei es vermittels leichtfüßigem Humor, statt immer nur den Status Quo zu konstatieren, dass die Welt schwierig ist, sind abgesehen Ausnahmen in der Sammlung ebenfalls recht rar. Humorvolle, gut gelaunte Texte, Komödien – auch eine wohlerprobte Möglichkeit des Bashing (wie man heute gerne sagt) – sind in der Sammlung bis auf Yuriy Nesterkos Eldar – der blasse Hidalgo, und Lora des Ritters frau nicht vorhanden. Was auf die Länge der Textsammlung dies mit edlem 90g-Papier hergestellte Buch nicht nur in der Hand schwer wiegen lässt.

*

Mit Texten von: Katja Buschmann, Alexander Diener, Jens Eisel, Ulrike Feibig, Konrad Feldschmid, David Frühauf, Hannes Fuhrmann, Normen Gangnus, Jan Geiger, Sandra Gugic, Katharina Hartwell, Tim Holland, Matthias Jügler, Ursula Kirchenmayer, Anne Klapperstück, Karlina Kögel, Sascha Kokot, Monika Koncz, Lisa Kreissler, Isabelle Lehn, Wolfram Lotz, Sascha Macht, Babet Mader, Patrick Maisano, Janko Marklein, Jurij Nesterko, Robert Reimer, Anna Schöning, Therese Schreiber, Manuel Stallbaumer, Bettina Suleiman, Hakan Tezkan, Sarah Trilsch, Florian Wacker, Keith Waldrop, Julia Walter, Nadja Wieser und Bettina Wohlfender; Bonus-Texte der Absolventen: Martina Hefter, Norbert Lange, Jo Lendle, Kerstin Preiwuß, Ulrike Almut Sandig und Juli Zeh.

Deutsches Literaturinstitut Leipzig (Hg.)
Tippgemeinschaft 2012
2012 · 288 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-937799643

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