Die Zerklüftung der Welt
Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems hat auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs ein Sinnvakuum hinterlassen. Spürbar war das zunächst vor allem in den Ländern des ehemaligen Ostens, denn sie mussten sich gewissermaßen neu erfinden. In diese Leerstelle hinein drangen nationalistische und religiöse Heilsideennsätze, die den revolutionären Veränderungen der Jahre um 1990 zu Grunde lagen. Weil aber auf der verbliebenen Seite, der westlichen, auch nicht alles in Ordnung war, weil sie eben nicht siegreich aus dem kalten Krieg hervorging, sondern nach der Implosion des Gegners einfach übrigblieb, suchten sich Heilsversprechungen und Nationalismus einen Weg in dieser Hemisphäre und trafen dort zuweilen auf fruchtbaren Boden.
Was es aber im Osten weniger gab und auf administrativer Seite trotz aller Beteuerungen vor deren Zusammenbrechen schon gar nicht, war eine Friedensforschung, ging man doch davon aus, dass Frieden der Zustand sei, der nach dem globalen Sieg der Arbeiterklasse ohnehin herrsche, Arbeiter in ihrem Vormarsch nicht nur alle Klassenschranken, sondern darüber hinaus alle antagonistischen Unterschiede hinwegfegen würden. Nach diesem Sieg würde ein paradiesischer Zustand herrschen, soviel galt als gewiss, und wozu wäre unter diesen Bedingungen eine Friedensforschung von Nöten.
Ein Satz aber galt auf beiden Seiten, ein Satz, der ein Versprechen war, der sich aus der historischen Erfahrung speiste und der besagte; dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe.
Nun kam es nach der Wiedervereinigung zu einer Normalisierung der politischen Struktur Deutschlands und auch die Verbündeten stellten Ansprüche, die einer deutschen Sonderstellung entgegen liefen. Das vereinigte Deutschland begann also, ob berechtigt oder unberechtigt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, sich in kriegerischen Handlungen zu engagieren. Man könnte meinen, dass das genau der Moment sei, wo eine Friedensforschung von Nöten ist, und genau eine solche liefert Senghaas. Dieter Senghaas, 1940 geboren, ist Seniorfellow am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen.
Zunächst mutet es, angesichts der Ostermarschhäuflein der Gegenwart wie ein Ruf aus einer Vergangenen Zeit an, aber es ist doch notwendig, den Wunsch nach Frieden, der in anderen Regionen der Welt wesentlich dringlicher ist, als im befriedeten Mitteleuropa, eine wissenschaftliche Form zu verleihen.
Senghaas begreift den Frieden nämlich nicht bellizistisch als einen Zustand, in dem die Waffen schweigen, sondern als einen politischen, sozialen und ökonomischen Prozess. Als vorbildhaft, trotz aller und vor allem gegenwärtiger Problemlagen sieht er dabei die Integrationsentwicklung innerhalb der europäischen Union.
An dieser Stelle mag so mancher seinen Eurozentrismusvorwurf auspacken und einen Pluralismus der Kulturen verlangen. Aber machen wir uns nichts vor, Basis für einen solchen Pluralismus ist Leben und Überleben. Und: Der (west)europäische Friedensprozess seit 1945 ist in seiner Nachhaltigkeit einzigartig.
Bei allem schwingt natürlich die kantianische Vorstellung eines ewigen Friedens mit. Frieden wäre demzufolge nicht die Ausschaltung von Konflikten und Widersprüchen, sondern der Weg ihrer Austragung und Regulierung unter Ausschluss militärischer Mittel, kurz ein zivilisatorischer Prozess, der die ganze Welt umfasst. Dass dabei die einzelnen Nationalstaaten von ihrer jeweiligen Souveränität etwas abgeben müssten, scheint mehr als vernünftig.
Etwas rechne ich Senghaas Buch zu Zeiten eines religiösen Fundamentalismus, wie wir sie jetzt erleben, hoch an: Religionen werden weder als Grund noch als Ausweg kriegerischer Konflikte gesehen. Es geht um zivile postreligiöse Regulierungsmechanismen und um sozialen und ökonomischen Ausgleich.
Als Leipziger, oder zumindest als einer, der in Leipzig wohnt, war ich natürlich besonders angetan von Senghaas Rekurs auf List, und dessen Erörterung der Problematik einer nachholenden Entwicklung. Für List war der Ausbau des Eisenbahnnetzes von entscheidender Bedeutung für einen ökonomischen Ausgleich der Regionen und der Stadt Leipzig sollte dabei als Knotenpunkt eine entscheidende Rolle zukommen.
Im Grunde ist es, auch hinsichtlich der ökonomischen Verwerfungen in der europäischen Politik, aber auch international an der Zeit, sich mit einer derartigen Friedenstheorie zu befassen, wie Senghaas sie entwirft und die Fundamentalismen aller Couleur in ihre Schranken zu verweisen.
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