Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Kälteschlaf für die Zukunft

Hamburg

Eiskalt geht es in Don DeLillos neuen Roman Null K zu. Denn der Titel steht für Null Kelvin und bezeichnet mit minus 273,15 Grad Celsius den absoluten Nullpunkt. Dieser steht im Roman für das Verfahren, mit dem sich Menschen einfrieren lassen, um den Tod in der Jetztzeit zu überlisten.

Die Handlung beginnt damit, dass der über sechzigjährige Milliardär Ross Lockhard seinen Sohn Jeffrey zu einem Gebäude in der Wüste von Kasachstan einfliegen lässt, wo er ein Unternehmen namens The Convergence aufgebaut und finanziert hat. Jeffrey soll dabei sein, wenn Artis, die schwerkranke zweite Frau seines Vaters, dort sterben wird.

»Der Körper wird eingefroren. Kryonische Konservierung«, sagte er.
»Und dann, irgendwann in der Zukunft.«
»Diese Zukunft kommt, sobald es Maßnahmen gegen die Umstände gibt, die jetzt zum Ende führen. Geist und Körper werden wiederhergestellt, dem Leben zurückgegeben.«
»Das ist keine neue Idee. Stimmt’s?«
»Das ist keine neue Idee. Es ist eine Idee«, sagte er, »deren vollständige Umsetzung kurz bevorsteht.«

Jeffrey hat recht. Die Idee ist nicht neu. Tatsächlich gibt es in den USA 250 Menschen, die sich in flüssigem Stickstoff einfrieren lassen, allerdings bei »nur« minus 196 Grad Celsius. Sie alle hoffen, irgendwann in einer Welt wieder zum Leben erweckt zu werden in der

sich der Alterungsprozess neu steuern, die Biochemie fortschreitender Krankheiten rückgängig machen lässt.

Da es diese kryonische Konservierung schon gibt und in verschiedenen Zusammenhängen - Stichwort social freezing – dafür geworben wird, hat DeLillo folglich kein Science Fiction geschrieben. Dennoch wirkt der Roman streckenweise wie die Beschreibung einer (schrecklichen) Zukunft. Nicht nur, weil eine Wiederauferstehung bisher außer in Filmen nicht stattgefunden hat, sondern auch, weil die Beschreibung, wo und wie die Toten ins vorläufige Jenseits befördert werden, äußerst verstörend wirkt.

Wir standen im Gang oberhalb einer kleinen, abschüssigen Galerie und betrachteten drei menschliche Gestalten in einem schmucklosen Raum, so ausgeleuchtet, dass die Randbereiche im Dunkel verschwanden. Da standen Einzelpersonen in Klarsichtgehäusen, in Körperhülsen, ein Mann, zwei Frauen, kahl rasiert, nackt alle drei.

Schon bei seiner Ankunft empfindet Jeffrey die Gebäude von Convergence agoraphobisch und abgeschottet, die sich blind, stumm und düster, mit unsichtbaren Fenstern versteckten. Er steht dem Projekt seines Vaters, der ihn und seine Mutter verlassen hat, als Jeffrey dreizehn Jahre alt war, ablehnend gegenüber. In einem Gespräch mit Artis formuliert er seine Bedenken:

Denkst du an die Zukunft? Wie wird die Rückkehr sein? Derselbe Körper, ja, oder ein verbesserter Körper, aber was ist mit dem Geist? Ist das Bewusstsein unverändert? Bist du derselbe Mensch? Du stirbst mit einem bestimmten Namen und all der Geschichte, den Erinnerungen und Rätseln, die an diesem Menschen und diesem Namen hängen. Aber ist all das noch intakt, wenn du aufwachst? Einfach so, als hättest du sehr lange geschlafen?

DeLillo stellt hier wie in dem ganzen Roman existenzielle Fragen, die keine Wissenschaft beantworten und die den in der Convergence umherirrenden Jeffrey ziemlich ratlos machen.

Ziellos läuft er durch lange Gänge, trifft auf abgeschlossene Zimmer, gelangt verbotenerweise in die den Todgeweihten vorbehaltenen Untergeschosse und findet beängstigende Figuren. Auch die lebenden Menschen, Personen, die als Ärzte, Manager, Begleiter, Mönch in die reibungslose Abwicklung des Systems Convengence eingebunden sind, bleiben für Jeffrey undurchsichtig. Er, der sich sowieso durch Wörter definiert, erfindet in einer Art Abwehrzauber Namen für sie.

Als sei das alles nicht genug, nimmt DeLillo, hier wie in seinen anderen Romanen ganz Chronist der Zeitgeschichte, die Gegenwart mit in den Kontext, indem er Jeffrey in den Fluren auf große Bildschirme starren lässt, auf denen Terroranschläge, Kriege und Naturkatastrophen zu sehen sind.

Aber Jeffrey bleibt und schaut zu, wie Artis für die Kryokonservierung vorbereitet wird.

Artis lag irgendwo mittendrin abgedeckt auf einem Tisch. Sie war nur kurz sichtbar und nie ganz, mal die Körpermitte, mal die Unterschenkel, nie gab es einen deutlichen Blick auf ihr Gesicht. Das Team arbeitete über ihr und um sie herum. Ich wusste nicht, ob ich die physische Form, an der sie arbeiteten, als »Körper« oder »Leiche« ansehen sollte, vielleicht lebte sie ja noch. Vielleicht war dies der Moment, die Sekunde ihres chemisch unterstützen Dahinscheidens.

In diesem ersten Teil des Romans gibt es immer wieder Rückblicke, in denen sich Jeffrey an die lebende Artis erinnert, wie sie als Archäologin in der Erde gegraben hat. Vor allem aber denkt er an den Alltag mit seiner Mutter Madeline. Diese Textstellen sind für Jeffrey aber auch für den Leser in ihrer Normalität emotionale Halteschlaufen.

Die gewöhnlichen Augenblicke machen das Leben aus. Darauf, das wusste sie, konnte man sich verlassen, und das lernte ich irgendwann aus unseren gemeinsamen Jahren. Nicht die Sprünge oder Abstürze. Ich inhaliere die kleinen nieseligen Nichtigkeiten der Vergangenheit und weiß, wer ich bin. Was mir vorher unverständlich war, ist jetzt klarer, durch die Zeit gefiltert, eine Erfahrung, die niemandem sonst gehört, nicht im Entferntesten, niemandem, egal wem, niemals. Sie benutzt die Fusselrolle, um Fusseln von ihrem Stoffmantel zu entfernen, ich sehe ihr zu. Definiere Fusseln, sage ich mir. Definiere Zeit, definiere Raum.

Ursprünglich wollte Ross zusammen mit Artis sterben, reist aber mit Jeffrey wieder ab. Im zweiten Teil befindet sich Jeffrey in New York, wo er mit Alltäglichkeiten wie Jobsuche und seiner vorübergehenden Freundin Emma beschäftigt ist. Doch Ross hält es aus Trauer um Artis ohne sie nicht aus und Jeffrey begleitet seinen Vater zwei Jahre später wieder zu Convergence, weil dieser mit Artis zusammen sein will und an die Wiederauferstehung glaubt.

Dazwischen gibt es einen kurzen Teil mit der Überschrift Artis Martineau. Er besteht aus kurzen voneinander abgehobenen, teilweise rätselhaften Sätzen, aus wechselnden Perspektiven, und es scheint, als ob diese Stimmen aus dem Zwischenbereich von Leben und Tod kommen.

Ich versuche zu wissen wer ich bin.
Aber bin ich wer ich war und weiß ich was das heißt.
Sie ist die erste und dritte Person und bekommt beides nicht zusammen.
Ich muss unbedingt diese Stimme abschalten.

Diese sieben Seiten habe ich am Ende der Lektüre zum zweiten Mal gelesen und darin letztlich die Summe dessen gefunden, wovon in dem Roman die Rede ist. Dass trotz aller Wissenschaft und allen Glaubens die Ungewissheit bleibt.

Am Ende des Romans steht ein Naturschauspiel, das ganz ohne Menschenzutun geschieht, wenn nämlich die Sonnenstrahlen genau entlang der Straßenachsen von Manhattan verlaufen. Bleibt am Schluss also nicht planbares Staunen.

Null K ist keine einfache Lektüre. Dennoch hat mich Don DeLillos fünfzehnter Roman berührt wie selten ein Buch. Weil er etwas mit mir zu tun hat und weil der Autor es dem Leser überlässt, die aufgeworfenen Fragen selbst zu beantworten.

Don DeLillo
Null K
Übersetzung:
Frank Hofer
Kiepenheuer & Witsch
2016 · 288 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-462-04945-9

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge