Das atemlose blinde Spiel und Rainer Maria Rilke
Daß Durs Grünbein über ein einzelnes Gedicht einen umfassenden und sinnreichen Kommentar zu schreiben weiß, der schließlich als eine 32-seitige, limitierte bibliophile Broschüre (als XII. Druck des Literaturbüros Ostwestfalen-Lippe) 2007 erscheint, stellt eine gute Gelegenheit dar, erneut darauf hinzuweisen, was für ein leidenschaftlich lesender und auch Lyrik vergangener Epochen liebender Dichter dieser Grünbein ist (darf man von einem Professor für Poetik ja auch erwarten; allerdings: bei Grünbein ist – wie bei vielen hervorragenden Lyrikern - die starke Bindung an die Verskünste der Vergangenheit ein für das eigene Dichten ganz essentielles Puzzleteilchen). Und was ihn bei dieser monographischen Betrachtung eines Gedichtes von Rainer Maria Rilke kennzeichnet, ist sein Finden von und Denken in Zusammenhängen, die oft nur von Anflügen und Beiläufigem her lesbar sind, sowie die Fähigkeit Rilke nicht nur auf dem bereits vereinbarten Platz in der Literaturgeschichte aufzusuchen, sondern auch seiner inneren Verortung nachzuspüren, welche erst zu diesen Gedichten führen konnte (was Grünbein aber leider nur andeutungsweise gelingt).
1906 ist Rilke zum zweiten Mal in Paris, er weilt bei dem Bildhauer Rodin, um ein Buch über ihn zu schreiben und im Südwesten des unweit der Hochschulen gelegenen Jardin du Luxembourg steht er, aus den streng geometrischen Gartenanlagen kommend, plötzlich vor laut und bunt besuchten Ponyreitanlagen, einem Kasperletheater und vor einem Karussell – vor dem er stehenbleibt und in dessem Treiben und Drehen und Wehen er schließlich für einen Moment innehält. Er hat selbst eine Tochter, die 1901 geborene Ruth, er hat sie bei seiner Frau und zusammen mit dieser im Stich gelassen, ging nach Paris, weil er angeblich „seine Familie nicht ernähren kann“. Er wird zu dem Beobachteten Strophen finden, die später als Paradebeispiel seiner Dichtkunst in unzählige Anthologien aufgenommen werden. Auch Grünbein sieht darin den „Musterfall eines Dinggedichtes. Der Vers hat sich seinem Gegenstand fugenlos angepasst.“
Das Karussell
JARDIN DU LUXEMBOURG
Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.
Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur daß er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
Und hält sich mit der kleinen heißen Hand,
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber –
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und das geht hin und eilt sich, daß es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel…
Um dieses Gedicht kreist Grünbeins Aufsatz. Man hatte es ihm ungefragt (wohl um ihn freudig zu überraschen) im DLA in Marbach als Handschriftenoriginal vorgelegt und nun legt er vor, was ihm dazu aus allen Ecken und Enden entgegenfiept. Der weiße Elefant spielt eine Rolle, das kleine blaue Mädchen (das Grünbein mit Rilkes von ihm vernachlässigter Tochter in Verbindung bringt).
Grünbein analysiert geschickt das Besondere an Rilkes Lyrik, dessen Gedichte oft Kamerafahrten sind und vielleicht die Zerstörung der eingefrorenen Schönheit des Moments in der Plastik bedeuten, wie sie Rilke just als Sekretär von Rodin kennengelernt hatte. Er löst sich aus dem Materiellen und versucht an das Imaginäre durch die Bewegung zu kommen. „…daß er hier, in der Verfeinerung des Bewegungsbildes, eine Chance sah für die Plastizität des Imaginären“ – das bedeutet eine Annäherung an das vorpsychologische Wissen, daß die Gebärde, die wir aus der Lebensbegegnung herauslesen können, chiffriertes Konkretes enthält, stark verbarrikadierte Antworten, die im Hintergrund wirken, oft unbenennbar, aber aufscheinend im Kontext. Das Rilkesche Dinggedicht (durchaus auch mit Grünbeins Fragmentsammlungen verwandt) ist kein bloßes Ding betrachtendes Geschehen, wie das die Bezeichnung evoziert, sondern eine Verbrüderung mit dem lebendig Bewegten selbst, also eher ein Non-finito, ein Loslösen aus dem Unbeteiligtsein gerade durch den vergenauerten Blick. Wenn Grünbein „mit einigem Blinzeln von vorexpressionistischen Harmonien“ zu sprechen anhebt, dann liegt das genau hierin begründet. Im Expressionismus wird sich dann das Auge auf noch umfassendere Gebärden, städtische, welthaltige, einstellen, aber dazu hatte es an und mit Rilke lernen müssen, daß es zu einem Ich gehört, das nicht befugt war über der Realität zu thronen, sondern selbst nur ein realer Prozess war.
Viele solcher Überlegungen stößt Grünbein an – aber er gibt nicht diese und auch sonst kaum Antworten, das Meiste bleibt fragmentarisch. Gut möglich, daß der Aufsatz genau dies zeigen soll – wie viele Fragen sich anhand des Studiums eines einzelnen Gedichtes aufwerfen lassen, wenn man Zusammenhänge wie Saiten anspielt. Und daß man tatsächlich Bücher schreiben kann über das, was einem mit und in einem einzigen Gedicht begegnet. Inspirierend ist das ungemein.
Das Karussell gelesen von Claus Boysen: www.claus-boysen.de/rilke_karussell.html
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