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Kritik

Ein Orkan von Gewalt & Leidenschaft

Wolfgang Schlüter macht Emily Brontës „Sturmhöhe“ erstmals in vollem Umfang lesbar
Hamburg

Es geschieht nicht alle Tage, daß ein so guter Roman erscheint; und seinen Inhalt en détail wiederzugeben, würde manchen Leser der Hälfte seines Vergnügens berauben, das er beim Schmökern im Werk selbst empfände,

heißt es in einer anonymen Rezension, die wohl kurz nach dem Erscheinen der Erstausgabe im Jahr 1847 veröffentlicht wurde. Die Rede ist vom einzigen Roman der im Alter von dreißig Jahren verstorbenen Emily Brontë. Das Werk ist so oft ins Deutsche übersetzt und so oft verfilmt worden, daß der grobe Umriß der Handlung als mehr oder weniger bekannt vorausgesetzt werden darf. Warum dann, erhebt sich, nicht völlig unberechtigt, die Frage, noch eine weitere Übersetzung? Ganz einfach: Weil Wolfgang Schlüter den Roman bis in etymologische Finessen hinein vielleicht zum ersten Mal in adäquater Gestalt auf Deutsch vorgelegt hat. Das spricht freilich den vorhandenen Übersetzung weder die Qualität noch die Berechtigung ab, sondern nur dafür, daß die verschiedenen stilistischen Ebenen hier konsequenter als bisher wiedergegeben werden, so daß der Roman in seiner ungeheuren Wucht und Gewalt, ja, physischen & psychischen Gewalttätigkeit nun wirklich leibhaftig spürbar ist.

In der Tat dürfte es schwer sein, der „Sturmhöhe“ ein anderes Werk der Weltliteratur zur Seite zu stellen, das ihr in puncto Gewalt gleichkommt. Die meistenteils rauhe, unwirtliche, von Wind zerzauste, vom Regenschleiern wie mit nassen Lappen abgeklatschte Landschaft der Hochmoore von Yorkshire im Jahr 1801 ist nur ein Spiegel der inneren Verwüstetheiten der Protagonisten. Verabreichte Prügel und Tritte auf wehrlos am Boden Ausgestreckte sind beinahe noch die geringsten Brutalitäten — ein Kleinkind wird aus dem ersten Stock fallengelassen, Hundewelpen werden aufgehängt, Messer und Gewehre gezückt. Auch an psychischer Folter lassen sich die allerhand Varietäten nennen: Manipulationen, Gefangenschaft, Rachedrohungen, religiöser Fanatismus. Es scheint beinahe, als begünstige die Abgelegenheit des Hofes Wuthering Heights und des benachbarten Herrenhauses Thrushcross Grange die charakterlichen Defekte der meisten ihrer Bewohner.

Der Handlung entsprechend ist die Sprache ziemlich deftig, es wird gebrüllt, geflucht und verflucht, was die Lungenflügel hergeben. Gerade hier zeigt sich Schlüters Adjustierung an die Redegewohnheiten im Jahr der Verrohung 2015 am deutlichsten:

„Verfickt sollste mir sein, eh’ ich dir den Diener mache“, grummelte der Bursche.
(„I’ll see thee damned before I be thy servant!“ growled the lad.)

„Geh du jetzt!“ sagte er zu Earnshaw. „Die gottverfickte Fotze! Diesmal hat sie mich gereizt, wo ichs nicht ertragen konnte, und das soll sie mir bis in alle Ewigkeit bereuen!“

(„Now, you go!“ he said to Earnshaw. „Accursed witch! this time she has provoked me when I could not bear it; and I’ll make her repent it for ever!“)

Eine solche Sprache mag, für einen sogenannten ‚Klassiker’, im ersten Moment ein wenig gewöhnungsbedürftig sein, doch kann die von Schlüter angestrebte „wirkungsadäquate Wiedergabe“ hier durchaus den Vorrang vor einer historisch angemessenen Stilebene beanspruchen. Das ist im Kontext sehr plausibel, denn auch sonst ist vor allem Heathcliff alles andere als zimperlich:

„Wäre ich da geboren, wo die Gesetze weniger streng sind und die Geschmäcker weniger verfeinert sind, wäre es mir ein abendliches Hochvergnügen, an den beiden eine langsame Vivisektion vorzunehmen.“

Ist Heathcliff ein Monster, ein durch und durch bösartiger Mensch — ein Getriebener seiner Leidenschaften? Oder hat ihn der Neid des Stiefbruders, die Mißgunst seiner Umwelt, die Gesellschaft mit ihrem Standesdünkel, erst dazu werden lassen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet, nicht zuletzt durch einen Kniff der Autorin: Es gibt keine vertrauenswürdige auktoriale Instanz, nur die Einschätzung der verschiedenen Erzählstimmen. Und auch die sind mehrfach verschachtelt — Lockwood, der Pächter, gibt wieder, was ihm seine Haushälterin berichtet, die in ihren Bericht wiederum Erzählungen anderer Personen einflicht. Und womöglich ist, wie Wolfgang Schlüter als hübsche Möglichkeit andeutet, aller Lärm ohnehin nur das Gespinst eines nie beendeten Traums...

Emily Brontës Roman ist zwar auf das mephistophelische Gebaren Heathcliffs fokussiert, liefert aber mit dem – oft als idyllisch überhöht kritisierten — Schluß eine überhaupt nicht kitschige Auflösung der generationsübergreifenden Rachepläne. Ob den drei unglücklich Liebenden, Heathcliff, Catherine & Edgar Linton, in ihren nebeneinander liegenden Gräbern, wie am Ende von Hawthornes „Scharlachrotem Buchstaben“ ein versöhnliches Ende im Jenseits vergönnt ist, scheint angesichts des desolaten Zustands der Gräber beinahe zweifelhaft. Viel diesseitiger ist der Trost, den die junge Liebe von Hareton und Cathy zart aufleuchten läßt: sie kommen zueinander durch das geschriebene Wort, die Literatur, die Sprache. Und wo sonst fände sich ein ähnlich schönes Bild wie dieses —: Literatur als Aufklärung der Leidenschaft und Remedium für die wahnhafte Liebe?

Schlüter ist seiner Vorlage streng verpflichtet, er klebt indes nicht an jedem einzelnen Wort; vielmehr greift er, wenn nötig, interpretierend ein, nicht jedoch gewaltsam modernisierend, sondern das aufgreifend, was im Ausgangstext keimhaft angelegt ist. Über alle weiteren Eigenmächtigkeiten geben die Anmerkungen Auskunft. Sieht man einmal von Schlüters Vorliebe für ‚Fremdwörter’-Ballungen ab, zumal wenn sie nicht recht zum Bildungsstand des Sprechenden passen wollen — würde eine schlichte Haushälterin wirklich „Solitüde“ sagen? —, ist diese Neuübersetzung ein schierer Glücksgriff, weil er die starken Gefühle nichts als den Konventionen der Zeit gemäßte Überspanntheiten, sondern als echte Gefühlsausbrüche spürbar macht. Auch hinsichtlich des Kommentars, des Nachworts, der beigegebenen zeitgenössischen Rezensionen und anderer Texte läßt dieser Band keine Wünsche offen. Schlüter, der versierte Sprachchirurg, hat dem Roman eine Frischzellenkur verpaßt!

Emily Brontë
Sturmhöhe
Übersetzung:
Wolfgang Schlüter
Hanser
2016 · 640 Seiten · 39,90 Euro
ISBN:
978-3-446-25066-6

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