Was ist Geschichte?
Diese Frage wird einige verwundern, denn im grassierenden positivistischen Geschichtsverständnis liegt die Antwort doch klar auf der Hand: Geschichte ist das was war, und in Abgrenzung dazu wäre Zukunft das was uns bevorsteht. Von der Geschichte wissen wir aus den Erzählungen und Dokumenten, von der Zukunft wissen wir nichts. Aber so einfach scheint das nicht zu sein. Einerseits haben wir eine Geschichtsschreibung und Historiographie, die Vergangenes verzeichnet, und andererseits Geschichtsphilosophien, die versuchen, das Verzeichnete unter einen Hut zu bringen, innere oder äußere Strukturen zu entdecken, der Geschichte eine innere Logik zu unterstellen. Immer wieder kommen mir in der Auseinandersetzung damit Walter Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte in den Sinn. In der ersten dieser Thesen ist von einem Zwerg die Rede, der im inneren eines Automaten hockt und über eine ausgeklügelte Mechanik den Automaten bedient, der ein Schachautomat ist, und jedes seiner Spiele gewinnt. Der Zwerg sei die Theologie, schreibt Benjamin, im Dienste des historischen Materialismus. So ziemlich am Anfang des Aufsatzes "Was ist Geschichte?" zitiert der Autor einen Psalm:
Ich sagte: Hier bin ich.
Und Er sprach:
Du suchst den Gott der Götter,
den Schöpfer
in deines Herzens Seele.
Ich bin es!
In dem hier vorliegenden Texten Voegelins verlässt also der Zwerg seine Deckung und wächst zu menschlicher Größe. Wieder zu menschlicher Größe, sollte man sagen, denn zumindest bis Hegel war Geschichte ein Prozess, in dem sich Gott, oder eine absolute Idee in eine Wirklichkeit entäußert, ausdrückt oder in ihr sich wenigstens zeigt. Immer diente dabei allerdings die Geschichtsphilosophie als Ideologie zur Zementierung je aktueller Machtverhältnisse, oder, wie bei Marx, zur Begründung eines kommenden Umsturzes, der dann das Ende der Geschichte herbeiführen und damit all dem Vergangenem Sinn verleihen würde.
Umso verwunderlicher ist es, dass Eric Voegelin in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts an einem Werk arbeitet, das den vorhandenen Globalerzählungen eine weitere hinzufügt. "Order and History" heißt das auf mehrere Bände angelegte Mammutprojekt, an dem der Philosoph über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren arbeitete. Aber: es war kein Abarbeiten eines festgeschriebenen Programms, und die nun vorliegenden Texte beschreiben Zäsuren, Lernprozesse angesichts des umfangreichen historischen Materials und letztlich auch angesichts aktueller historisch-politischer Entwicklungen. Es ist faszinierend mitzulesen, wie Voegelin, sicherlich auch angesichts seiner Erfahrung des Exils - als Jude musste er in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts Europa verlassen - seinen Blick öffnet und seine eurozentrische Sicht verlässt. In der kürzlich erschienenen Fixpoetry-Rezension auf Voegelins Buch "Die Natur des Rechts" wurde bereits auf die Auswirkungen der Exilerfahrung auf sein Denken eingegangen.
Diese Abkehr vom Eurozentrismus ist aber letztlich auch eine Abkehr von einem linearen Geschichtsmodell, ohne welches er seine Grundannahmen über Bord hätte werfen müssen. Das zeugt sicherlich von der Flexibilität seiner Ausgangsthese, die den Geschichtsprozess dialektisch zwischen Immanenz und Transzendenz beschreibt.
Der zweite Text im zu besprechenden Buch Erik Voegelins nach dem titelgebenden "Was ist Geschichte" heißt "Ewiges Sein in der Zeit" und extrapoliert diese Grundannahmen hinsichtlich seines Faches, der Philosophie, und beinhaltet neben einer Kritik der Hegelschen Geschichtsphilosophie auch eine an der von Jaspers. Höchst interessant ist, wie Voegelin Unzulänglichkeiten beider Modelle aufzeigt und sie eben auf ihren Eurozentrismus zurückführt.
Denn wie für Jaspers die Ausbrüche, die sich nicht in den Zeitraum fügen, so wird für Hegel die Reichsgeschichte des vorderen Orients zu einer Verlegenheit, die sich nur durch fragwürdige Mittel der Eingliederung des Perserreichs, das an ihrem Ende steht, lösen lässt. Die Verwandtschaft der Fehlkonstruktion lässt uns auf die Verwandtschaft ihres Motivs aufmerksam werden, das in der Opposition der Aufklärung zum Geschichtsbild der historia sacra zu suchen ist.
Voegelin selbst versucht, konstruktiven Verwerfungen zu entkommen - worunter ich die Beugung des historiografischen Materials verstehen würde, um es einem System der Geschichte anzupassen. Sowohl Hegel als auch Jaspers tun dies, um Ereignisse in ihr lineares Geschichtsbild zu zwängen. Das kritisiert Voegelin und versucht, seine Konstruktion weitgehend offen zu halten. Er wähnt sich nicht am Ende der Geschichte. Das dadurch entstehende Problem beschreibt er folgendermaßen:
Denn das Drama der Geschichte, da es nicht abgeschlossen ist, liegt nicht als ein Ding vor, über dessen Wesen aussagen gemacht werden könnten; und der Philosoph steht diesem Nicht-Ding nicht als Beobachter gegenüber, sondern wird durch sein Philosophieren zum Akteur in dem Drama, über das er aussagen will.
"Was ist Geschichte?" ist, seinem Gegenstand geschuldet, gewiss kein einfaches Buch, und deshalb bin ich dem Vorwort des Herausgebers Peter J.Opitz für seine werkgeschichtliche Einordnung sehr dankbar, ebenso wie der Übersetzerin Dora Fischer-Barnicol.
Fixpoetry 2016
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