Jandls Nadelstiche
Ernst Jandl ist etwas gelungen, das sich wahrlich nicht von selbst versteht – sich in jedem Gedicht neu zu erfinden, Avantgarde nicht nur in jenem Sinne zu sein, daß seine Formenkunst Terrain erschloß, das einer formkonservativen Literatur unzugänglich sein mußte, Anreger zu sein, Freiheiten zu erobern; sondern zudem jeden Text als einen, der denkt oder ein undenkbares Denken ist, zu schreiben. Das Medium wird hier zu dem, was spricht: was neue Denkmöglichkeiten aufscheinen läßt und alte Denkgewohnheiten dekonstruiert.
Das meint das Wort konkret bei ihm: Im Konkreten – im Wortmaterial – wird gezeigt und aufgefunden, was sein könnte und nicht sein kann: Schreiben, und jenes Jandls ist ein schlechthinniges, „Schreiben ist eine Sache des Werdens” (Deleuze).
So ist zurecht Jandl Avantgarde und Klassiker. Dieses Werk ist beides, ein Vortasten, aber darin auch ein Werk, das eben dies als Zentrum des Schreibens entdeckt; wie unklassisch sind die Verhärtungen eines sich um Klassizität mühenden Weinhebers, wie „dünn und verkrampft” nämlich neben Jandls Formenkunst, die sich klassisch doch exponiert, und zwar immer und überall..?
Es gehe um Wahrnehmung – darum, sich zu überfordern, die Krise des Mediums noch als Teil dessen zu erkennen, was das Medium und das Sensorium zu leisten vermögen:
„würde unser auge
nur dinge einlassen
die nicht größer als unser auge sind
wahrhaftig wir würden wenig sehen
selbst mit unseren beiden augen
unser sehen wäre nicht mehr
als zwei nadelstiche auf der haut eines elefanten”,
schreibt Jandl in seinen Letzten Gedichten. Zugleich findet sich in seinem Werk die Dekonstruktion dessen, was uns als das Wahre erscheint – ein reines Phantasma, das nur um den Preis der Entstellung findet, was es sucht, darin empirieresistent, also gar nichts findend:
„der wahre vogel
fang eine liebe amsel ein
nimm eine schere zart und fein
schneid ab der amsel beide bein
amsel darf immer fliegend sein
steigt höher auf und höher
bis ich sie nicht mehr sehe
und fast vor lust vergehe
das müßt ein wahrer vogel sein
dem niemals fiel das landen ein”…
Und nirgends und nie läßt sich Jandl dabei eben darum „auf eine Pointe, auf einen Einfall, auf ein Aperçu reduzieren”, diese fatale Souveränität, so bemerkte Schmidt-Dengler vor Jahren zurecht, ist diesem Werk nicht eigen. Eigen ist diesem Werk nämlich nichts: Die „Nüchternheit seines Dichtens besteht auch darin, daß es gar keine Generalmetapher erlaubt”, so Czernin zu Jandl: „Will man überhaupt eine allgemeine Bezeichnung für die Haltung, die sich in Jandls Schreiben zeigt, dann ist wohl diejenige des Pragmatischen angemessen.” Es ist mit Jandls Worten eine Dichtung, „die nicht an andres denken macht”, aber vielleicht, so wäre hinzuzusetzen, anderes denkbar macht, durch sich hindurch.
Kurzum: Dieses Werk ist ein Glücksfall – und ein weiterer Glücksfall ist, daß ihn die Leser noch immer wahrnehmen, man denke an Walter Serners Vorwegnahme und Konkretisierung dessen, was als Dada neben manchem seiner Texte verstaubt und seltsam klassisch-verstaubt sich ausnimmt; Leser sind ihm dennoch kaum beschieden, ein Unrecht der Rezeption. Hier aber gibt es Leser, und es wird sie hoffentlich auch weiterhin geben. Drei Gesamtausgaben – die geburtstägliche „Bilanz-Edition” von 1985, der 1997 unternommene Versuch, den „Kern seines Werks dauerhaft zugänglich zu halten” (so der Herausgeber), und diese erste eigentliche Gesamtausgabe, die auch Nachgelassenes integriert, wenngleich nicht erschöpfend – stimmen zuversichtlich. Jandl entstaubte uns und unsere Literatur: dichtend „mit dem staubwedel”. Nun liegt es an uns Lesern.
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