...dass der Mensch ein Organ besitzt, das ihm hilft, jede Situation zu überwinden
Immer weiter in die Enge getrieben, und dennoch niemals klein beigegeben, sondern immer weiter gewollt, immer tiefer in sich selbst hinein und immer weiter in die Welt hinaus.
Mit vielen Einzelschicksalen jüdischer Menschen ist die Öffentlichkeit durch Bücher und Filme in den vergangenen Jahrzehnten bekannt gemacht worden. Dem Ende im Gas, das dem jüdischen Volk von seinen Mördern bestimmt war, um es noch im Tode gleichzumachen und seine individuellen Spuren zu verwischen, trotzen all jene persönlichen Aufzeichnungen, die auf unwahrscheinlichen Wegen gerettet wurden. Es sind diese Einzelschicksale, unverwechselbare Lebenslinien, winzige Details, denen unmittelbar gelingt, was Gedenkstätten oft vergeblich intendieren: Gegenwart und Vergangenheit, Lebende und Tote miteinander ins Gespräch zu bringen.
In anderen Ländern längst ein Klassiker sind die Tagebücher Etty Hillesums (1914-1943), die den Leser mit einer ebenso vitalen wie klugen, ebenso lebenshungrigen wie reflektiertenjungen Frau bekannt machen, welche im vollen Bewusstsein der begrenzten Zeit, ihrem Leben eine beispiellose Intensität zu verleihen im Stande war. Die Holländerin Etty Hillesum, Studentin der Slawistik, beginnt ihr Tagebuch im Frühjahr 1941, 27jährig angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Beschränkungen, der ihr als Jüdin auferlegt werden als eine Art Rechenschaftsbericht. Klarheit über sich selbst möchte sie erlangen, und beginnt sogleich furchtlos, indem sie, eine nach der anderen, ihre Schwächen benennt, so das konfliktgeladene Verhältnis zwischen ihrer sinnlichen Natur und ihrem Streben nach Spiritualität.
Gleich auf der ersten Seite charakterisiert sich Etty selbstbewusst als gute Liebhaberin. Sie verliebt sich häufig und leidenschaftlich. Der Wunsch nach totaler Hingabe beherrscht sie, die Lust, sich in einem anderen Menschen ganz und gar zu verlieren. Wenngleich sie sich durchaus mit diesem Aspekt ihres Wesens identifiziert und ihre Liebesfähigkeit noch in den ausweglosesten Situationen nicht einbüßen wird, spürt sie zu diesem Zeitpunkt doch die Notwendigkeit, Himmel und Erde in sich zu versöhnen.
Eine erschreckend kurze Zeit, etwas mehr als zwei Jahre nur, bleiben ihr, um sich als Mensch nach ihren selbst gesteckten Zielen so tief und weit wie möglich zu entfalten.
Ihr Tagebuch ist dabei in seiner doppelten Funktion zu begreifen: zum Einen als Medium, das ihre innere und äußere Entwicklung reflektiert, zum Anderen als durchaus eigenständiger Ort, an dem diese Entwicklung maßgeblich stattfindet. Etty Hillesum möchte in ihrem späteren Leben, wenn einmal alles vorbei ist, Schriftstellerin werden. Trotz einiger Selbstzweifel spürt sie immer wieder die Kraft und Fähigkeit in sich aufkeimen, Menschen und Schicksale literarisch zu gestalten. Und tatsächlich verfügte sie über alle Voraussetzungen dazu: eine scharfe Beobachtungsgabe, Furchtlosigkeit, Nähe und Distanz zu sich selbst und den Menschen, mit denen sie Umgang pflegt, zeichnen die hellwache und hochsensible junge Frau aus, wie sie uns in ihrem Tagebuch direkt gegenübertritt. Etty schreibt für sich selbst, nicht für eine potentielle Öffentlichkeit, und gerade deshalb gelingt es ihr, an diesem privatesten aller literarischen Orte zu verwirklichen, was sie sich eigentlich erst für die Zukunft erträumt hatte: ihr Tagebuch selbst ist der Roman, der zu schreiben ihr verwehrt blieb.
Es ist der Roman ihres inneren Lebens, die Geschichte einer jungen Jüdin, die im Angesicht des Todes um ihre Würde, sprich um ihr Leben schreibt, aber zugleich, und das unterscheidet ihr Tagebuch grundsätzlich von anderen Zeitzeugenschaften, der Roman eines Menschen, der sich auch unter extremsten Bedingungen den ihm auferlegten Beschränkungen nicht beugt, sondern gegen alle Widerstände sein Recht verteidigt, alle Möglichkeiten, die in ihm liegen auszuschöpfen.
Etty Hillesum ist, wenngleich oft melancholisch und in sich gekehrt, doch in ihrem Innersten eine Kämpferin. Ja es hat geradezu den Anschein, als wüchse ihre Kraft proportional zu der sich zuspitzenden äußeren Bedrohung ihrer physischen Existenz. Während mancher ihrer Freunde sich klaglos mit der ihm aufoktroyierten Rolle des Opfers identifiziert, beschließt sie unwiderruflich, sich niemals zum Opfer degradieren zu lassen. Selbst wenn man sie töten sollte, wird sie doch niemals ein Opfer sein, sondern das Leben bis zum Schluss uneingeschränkt lieben und bejahen. Sie sagt es sich immer wieder: das Leben ist schön und will gelebt werden, auf alle Fälle, in jeder Situation. Als sich ihr die Möglichkeit bietet, unterzutauchen, lehnt sie ab. Sie hat ihr Schicksal längst angenommen, hat sich mit seiner Schwere ausgesöhnt und ist nun bereit, es ganz und gar auszufüllen. Ein anderes Schicksal als dieses will sie nicht mehr.
Mit welcher Schonungslosigkeit sie ihren inneren Kampf ausgefochten hat, verschweigt ihr Tagebuch nicht. Auch nicht, bei wem sie Beistand sucht in Not und Verzweiflung: ihrem wesentlich älteren Geliebten Julius Spier, einem charismatischen Psychologen und Handleser, der noch vor seiner Deportation eines natürlichen Todes stirbt – und bei Gott, dem Etty sowohl jenseits der jüdischen wie auch der christlichen Religion in ihren eigenen Innenräumen nachspürt. Es ist die absolute Gewissheit der Gottesnähe, die ihr am Ende jene fast übermenschliche Souveränität verleiht, mit der sie – so ist es überliefert - singend den Zug nach Auschwitz besteigt. Der unverbrüchliche Kern – luz wird im Judentum ein kleiner Knochen im menschlichen Körper genannt, der unzerstörbar ist und aus dem der Mensch einst wieder erschaffen werden wird - den sie in sich gesucht und gefunden hat, kann niemals der Vernichtung anheim fallen. Dieses Wissen macht ihren Weg unausweichlich und verleiht ihr die Kraft, anderen Menschen in höchster Bedrängnis beizustehen. So schließt ihr Tagbuch ohne Anklage, mit einem Satz, der noch lange nachhallt: man möchte eine Salbe sein für viele Wunden.
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