Ellbogen
Wenn man im Berliner Wedding als das Kind türkischer Migranten aufwächst, dann hält das Leben besondere Hürden parat. Da ist Hazal Akgündüz sich sicher. Sie weiß, dass ihr Leben in einer Sackgasse steckt. Umgeben von überprotektiven Eltern und einer Gesellschaft, die sich um die Eingewanderten wenig schert, sind die Perspektiven düster. Dennoch ist sie froh, keiner von den “Fluchtis” zu sein, wie sie und ihre Freunde Geflüchtete nennen. Sie macht das Beste daraus: mit den Freundinnen abhängen, bei ihrem Kumpel Eugen auf der Couch fläzen und so viel Kiffen wie sie will und nicht mehr kann. Die Schule beendet, jetzt steckt sie in einer Weiterbildungsmaßnahme fest. Taschengeld verdient sie sich mit einem Hungerlohn, den sie als Aushilfe in der Bäckerei ihres Onkels bekommt. Was soll da noch kommen? Hazal ist sich nicht sicher, aber sie hat Freunde. Und ihre kritische Beobachtungsgabe.
Fatma Aydemir seziert das Deutschland der Gegenwart durch die Augen ihrer jungen, zuweilen wütenden, aber immer scharfzüngigen Hauptfigur. Das liberale Deutschland lässt sich hier auf wenige Figuren runterkochen: der Ladendetektiv, der Hazal gleich zu Beginn des Romans beim Klauen erwischt. Der Student, der sie und ihre Freunde abends besoffen auf dem Bahnsteig der U-Bahn dumm anmacht. Deutschland und seine liberale Gesellschaft: sie ist hier das Parallele, das Andere, das Abwesende. Denn Deutschland schert sich eigentlich einen Dreck um die Zukunft der jungen Hazal.
Die poetische Sprache, die Aydemir nutzt, rollt in einem sogartigen Rhythmus über die Seiten. Sie bedient sich kurzer Sätze, die den Augen von Internetvielnutzern entgegenkommen: mehr braucht sie nicht, um Charaktere zu zeichnen, die sogleich plastisch wirken. Diese kurzen Beschreibungen setzt sie längere Passagen entgegen, in denen Hazal die Welt um sie herum reflektiert. Sie denkt über ihr Elternhaus nach, die konservativen Türken, die nie so richtig in ihrer neuen Heimat ankommen. Sie denkt über Kurztrips in die Türkei nach, die bei Tanten und Onkels in kleinen Dörfern verbracht werden. Und immer wieder taucht Istanbul auf: die Großstadt, die Hazal nur aus dem Busfenster kennt.
Dort lebt ihr Internetfreund Mehmet, den sie auf Facebook gefunden hat, und jetzt anhimmelt. Er ist ihre Projektionsfläche: der Traummann, der aus Deutschland abgeschoben wurde. Sein Leben in Istanbul erscheint Hazal realer, schöner, besser als ihr eigenes in Deutschland. Er wirkt heroisch, wenn er vor Skype sitzt und mit Augenringen gezeichnetem Gesicht vor sich hin raucht. Er lebt frei.
Im Gegensatz zu Hazal: sie ist von Selbstzweifeln geprägt, kennt dank ihrer Freunde alle Tricks, die der App-Store zu bieten hat. Welche App für welchen Beauty-Effekt, kein Ding. Sie ist ein Kind der sozialen Medien. Später im Roman wird sie in Istanbul sein und dort einen Laden sehen, der Handys verkauft und “Scannen, Drucken, ICQ, Internet” auf dem Schaufenster stehen hat. Hazal wird sich fragen: Was ist dieses ICQ? Eine Pointe, die Aydemir sich erlaubt, um die Generation ihrer Protagonistin zu verorten. Mit dem Internet aufgewachsen, Instagram-Filter auswendig kennen, aber nicht wissen, wie alte Messenger heißen, auf denen man sich unterhielt, bevor es Smartphones und soziale Medien wie Facebook fab. Denn auch das gehört in junge Literatur: der Bildschirm. Er ist allgegenwärtig – und notwendig.
Eine der lustigsten Szenen aus dem Roman bedient sich einem anderen Gegenwartsthema: der Clubkultur. Es ist Hazals 18. Geburtstag und sie will mit ihren Freundinnen feiern. Dafür legt sie Geld zur Seite, aber das muss sie leider wieder abdrücken, weil der Ladendetektiv, der sie beim Lippenstift-Klau erwischt, ihre Anzeige fälscht. Er füllt das Datum falsch aus und verhindert so, dass Hazals Eltern von der Anzeige Wind bekommen. Offiziell ist sie jetzt nämlich 18, wenn sie erwischt wird – und damit zumindest rechtlich bereits erwachsen. Das Geld für den Geburtstag kann sie sich zum Glück von ihrem Bruder leihen, der irgendwoher ein Bündel Geldscheine hat. Hazal glaubt er verkauft Drogen, aber wie sie später erfahren muss, hat er das Geld mit seinen Kumpels bei ihrem Grasticker Eugen geklaut. Mit dem Budget in der Tasche und einem neuen Kleid am Körper trinken die Mädchen vor. Eine der poetischsten Szene des Romans: Sie trinken und tanzen, schminken und machen Bilder von sich. Aydemirs Sprache trieft vor jugendlicher Sehnsucht nach Freiheit und einem Sinn für die Schönheit des Moments. Selbstvergessenheit steht den jungen Frauen so gut, dass sie keinen Filter brauchen.
Dann ziehen sie los in die Nacht, die endlich ihnen gehört, denn Hazal darf bei ihrer Freundin schlafen, obwohl sie morgens um acht spätestens wieder daheim sein und am Tag nach ihrem Geburtstag eine Schicht in der Bäckerei ihres Onkels schieben muss. Sie ziehen an diesen Club, irgendwo am Ostkreuz. Welcher Club, fragt man sich als Leser. Welcher Club weiß man, als Hazal und ihre Freundinnen umgeben von Menschen aus aller Welt, in Schwarz gekleidet, vor einem vom Bass bebenden Gebäude stehen. Sie quatschen mit ein paar der Drogenhipster in der Schlange, denken, sie werden angeflirtet, bis die beiden Jungs klar stellen: beide schwul, Honey. Alles klar. Hier treffen zwei Berliner Welten aufeinander und man wünscht sich als Leser innig, dass Hazal es ins Berghain schafft. Aber die Türsteher lassen sie nicht rein, auch wenn ihre Freundin diskutiert und ihren Kumpel anruft, der doch jeden in der Stadt kennt. Dieser Teil der Stadt bleibt den Berlinerinnen verwehrt und irgendwie ist damit Hazals Geburtstag gelaufen. Diese Wendung ist wichtig für die Geschichte. Der Twist kommt, ein harter Twist. Die Mädchen streiten sich mit einem besoffenen Studenten, der sie sexistisch anmacht. Sie reagieren wütend. Verprügeln ihn.
Cut.
Hazal ist nach Istanbul geflüchtet und nistet sich bei Mehmet ein. Die Stadt bleibt ihr verschlossen, ihr vom Deutschen gefärbtes Türkisch bringt sie durch den Alltag, aber die Türkei von Erdogan ist nicht der Ort der Freiheit, den Hazal sich erträumt. Polizeigewalt, Terror, Ausgangssperren: Hazals Abenteuer in der türkischen Hauptstadt bekommt eine schwere, die es so in Berlin mit Freunden und Familien nie hatte. Aydemir gelingt so ein Kontrastpunkt, den sie auf den knapp 300 Seiten des Romans niemals auflöst. Sie lässt uns und Hazal am Ende alleine mit der Frage, wie es in diesem Leben für Hazal weitergehen soll. Mehr als Hinweise und Möglichkeiten bleiben uns nicht. Was bleibt ist der Einblick in das Leben einer jungen Frau, der man den ganzen Roman über nicht mehr von der Seite weichen will.
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