Fiktion und Verschwinden
>Fiktion< vom lateinisch fingere heißt bilden, erdichten, vortäuschen. >Fiktiv< meint dem Metzler Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie nach „etwas Erdachtes, Erfundenes, Vorgestelltes, mit dem dennoch im Sinne eines >Als ob< operiert wird.“ Handelt es sich um Literatur als Objekt der Fiktion kommen zwei Deutungen ins Spiel. Der „Topos von der Lügenhaftigkeit der Dichtung“ und die „Vorstellung von Literatur als Ausdruck einer höheren Wahrheit im Rahmen einer erfundenen Wirklichkeit“. Übertragen auf Berlin, den Gegenstand von Francesco Mascis Essay, welchen er mit der Vorstellung von der reinen Fiktion in Verbindung bringt, orientiert sich der Philosoph an dem Vorwurf der Lügenhaftigkeit, die alles Wirkliche zum Verschwinden bringe.
Der Titel ist Rosa Luxemburgs letztem Artikel in der „Roten Fahne“ vom Vorabend ihres Todes am 15. Januar 1919 entliehen. Doch nicht gegen die bürgerliche Ordnung wird in diesem Band vorgegangen, sondern gegen eine andere, die nach Masci ebenso zwingend ist, wenn auch weniger gewaltsam. In Die Ordnung herrscht in Berlin, im Original L’ordre règne à Berlin, herausgegeben 2013 in der Pariser Édition Allia, im März 2014 in einer Übersetzung von Daniel Fastner im Matthes & Seitz Verlag erschienen, beklagt der italienische Philosoph Francesco Masci den Gestus des >Als ob<, der eine ganze Stadt zum Narrativ werden lässt und die in ihr Lebenden - selbst „fiktive Subjektivitäten“ - mit Erfüllung beseelt, während sie einer Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit aufsitzen.
Es ist ein langer Weg, vorbei an oft losen historischen, philosophischen und literarischen Bezügen, den Francesco Masci hier geht, um schließlich zu der „monumentalen Entwendung“ vorzudringen, die in Berlin stattgefunden habe. Die Entwendung, um die es hier geht, ist die Entwendung der Wirklichkeit.
In Berlin werde das Versprechen der Moderne eingelöst: die Befreiung des Einzelnen, der nicht länger zur politischen Haltung verpflichtet ist. Die Moderne findet bei Masci ihr Ende, wo sie das Politische endgültig vertrieben hat und historische Herkunftsbeziehungen fremd geworden sind. Übernommen habe die „absolute Kultur“. Heute sei der Mensch von der Wirklichkeit getrennt, ausgerechnet dort, wo die Geschichte erschütternde Wirklichkeiten entstehen lassen habe. Die mit dem Erlösungsversprechen der Kultur gegen die Tyrannei des Staates seit der deutschen Frühromantik bestehende Verklärung der Wirklichkeit durch Bilder habe heute in Berlin ihren Höhepunkt erreicht. Was einst Objekt der Betrachtung war, wird hier zu einer Organisationstechnik öffentlichen und privaten Lebens. Ereignisse entlasteten nicht mehr von objektiven Zwängen und Entbehrungen, die die Wirklichkeit ausmachen, sondern ersetzten diese. Die Kultur sei von der zweiten zur ersten Macht aufgestiegen. Verantwortlich in diesem Prozess zeichne sich nach Masci unter anderem die Französische Revolution, auf deren Trümmern die „absolute Kultur“ durch eine Lossagung von der Gesellschaft zur Welt gekommen sei, die Avantgarde, welche „die verselbstständigte Produktion von Fiktionen perfektionierte“ und die Folgen der Wiedervereinigung mit der Versöhnung von Technik (Ost) und Kultur (West).
Das Weinen darüber, dass der Tresor, einst illegaler Club, bald von Touristen entdeckt und heimgesucht wurde, herkömmliches Bild für den Wandel, der sich in Berlin vollzogen hat und vollzieht, ist alt, der Wandel bereits vielfach reflektiert und eine weitere Reflexion, die sich ihren Wert durch eine immense, aber lose Herleitung des Phänomens mittels historischer, philosophischer und literarischer Bezüge borgt, so unwesentlich, dass man sich nach der Lektüre des Essays viel lieber mit dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit auseinandersetzen möchte, einem Begriffspaar, an dem der Essay schließlich scheitert, weil er auf einen Widerspruch beider Begriffe baut, ohne Begriffsdefinitionen zu vollziehen.
Wirklichkeit ist mehr als die Ruinen Europas, vor denen die Gespenster aufgehört haben zu laufen. Sie kann nicht verschwinden, sie verwandelt sich jedoch stets. Schon lange ist Wirklichkeit in der europäischen Philosophie auch nicht mehr nur das objektiv Erkennbare, das losgelöst von den Subjekten besteht. Schon seit Demokrit besteht ein anderer Entwurf, „wonach Wirklichkeit nicht von Wahrnehmung und Erkennen und damit auch nicht von den erkennenden und wahrnehmenden Systemen getrennt werden kann.“ In Metzlers Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie heißt es: „Wenn wir aber in der Wahrnehmung nicht hinter die Wahrnehmung zurückgehen können, um das Wahrgenommene mit dem noch nicht Wahrgenommenen im Hinblick auf die Richtigkeit der Wahrnehmung zu vergleichen, dann können wir über eine wahrnehmungs-jenseitige Wirklichkeit nichts aussagen. Damit wird Wirklichkeit nicht etwa geleugnet, sondern die Hypothese vertreten, dass Wirklichkeit aus empirisch hoch konditionierten Prozessen des kognitiven, kommunikativen und poietischen Handelns von sozial interagierenden Aktanten im Rahmen einer Kultur resultiert.“
Folgt man diesem Wirklichkeitsbegriff kann der Mensch nicht aus der Wirklichkeit fallen, wie es Masci für die „fiktiven Subjektivitäten“ vorsieht, die sich einwilligend in ihr eigenes Verschwinden schlafen legen: durchgefeiert, wenn es hell wird, am Morgen danach.
Der Einzelne konstruiert die Wirklichkeit wahrnehmend mit. Das Wirkliche, das sich nach Masci nicht mehr länger gegen die Kultur wehren konnte, war in dieser Lesart immer schon Teil von ihr. Die Subjekte können nicht verschwinden, denn sie können das Band zur Wirklichkeit nicht durchtrennen. So können sie auch nichts entwerfen, was rein fiktiven Charakter hat.
Bei genauem Besehen ist der elaboriert erscheinende Essay geprägt von fehlenden Begriffsdefinitionen, Widersprüchen, losen Enden und Wiederholungen. Man wünscht sich sehr, wenigstens die Begriffe „Wirklichkeit“, „Fiktion“ und „Kultur“ würden in ihrer jeweiligen Verwendungsweise definiert.
Der Wandel, der vor allem in ökonomischer Hinsicht schwer wiegt, und eine Entwicklung der Gesellschaft, die sich zunehmend zum Event hingezogen fühlt, dagegen vielleicht immer weniger politische Haltung einnimmt, darf beklagt werden, aber es ist eine inzwischen zahme These, die Francesco Masci hier im Gewand großer Worte und mit viel Aufwand bändigt. Und es ist ein vereinfachtes Bild eines Ortes, an dem sich das Politische nach wie vor vollzieht. Vielleicht sieht man jenen politischen Konflikt, der als Vergangenheit bereits zu einem vereinfachten Bild zusammengefasst wurde, leichter als den Gegenwärtigen. Die Wirklichkeit ist immer komplexer als das Bild, schreibt Masci.
Das Individuum müsse sich kein Schicksal mehr schmieden. Aber ist das alles nicht der verzweifelte Versuch, sich ein Schicksal zu entwerfen? Nur dass es anders aussieht, weil es sich unter anderen Bedingungen vollzieht, weil sich Zwänge und Entbehrungen verändert haben. Alleine dass der Einzelne, wenn überhaupt einer vermeintlichen, nie aber einer echten Freiheit unterliegt, macht das Individuum zu einem tragischen und die Bilder, durch die es geht, vielmehr zu einer höheren Wahrheit als zu einem leeren Event.
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