Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Alles verändert sich

Ein Erzählungsband von Franziska Gerstenberg
Hamburg

"So lange her, schon gar nicht mehr wahr", heißt das Buch von Franziska Gerstenberg, das acht Erzählungen enthält. Darin begegnen wir Protagonisten, die aus unterschiedlichen Gründen mit den Untiefen des Alltags, genauer, des Lebens zu kämpfen haben. Da gibt es beispielsweise Christopher, der durch einen Telefonanruf an seinen vor fünfundzwanzig Jahren gestorbenen Bruder erinnert wird.

Mit einem einzigen Anruf war der Tod zurück in Christophers Leben

und obwohl er es ist, der denkt, dass alles schon so lange zurückliegen würde, kann er den Erinnerungen an seine verkorkste Familiengeschichte und an seine Eifersucht auf den draufgängerischen Bruder nicht ausweichen.

Es war Kai, der Rennrad gefahren war, nicht Hollandrad wie Christopher.

Wie hier genügt der Autorin oft ein Satz, um wesentliche Merkmale der Figuren hervorzuheben.

Mick hat oft gedacht, dass er einfach zu dumm ist. Es muss seine Schuld sein, dass die Sachen nicht so laufen, wie sie laufen sollen. Diesmal will er unbedingt durchhalten, das mit dem Job hinkriegen, auch das mit Inga.

Dies ist der Anfang der Erzählung Heim. Wie in allen Geschichten geht die Autorin auch hier nah an ihre Figuren und deren Gedanken heran. So wissen wir sofort, dass Mick bisher seine Jobs geschmissen und wohl auch sonst nicht viel hinbekommen hat. Und obwohl man als Leser bald ahnt, dass es für Mick auch diesmal weder mit der Arbeit noch mit der Freundin klappen wird, hofft man für ihn das Gegenteil, weil man sieht, wie sehr er sich bemüht und gerade deshalb immer das Falsche macht.

Dieses Bemühen, in schwierigen Situationen das Richtige zu tun, kennzeichnet alle Figuren von Franziska Gerstenbergs Erzählungen. In Willst du immer bei mir bleiben? ist es Sonja, die nach ihrer Scheidung von Sven lernen muss, allein zu leben. Sie zieht in eine kleine Wohnung,

lernt das Kochen neu

und versucht, sich von ihrer Rolle der hilflosen Frau zu verabschieden. Als Sven ihr eröffnet, in eine andere Stadt zu ziehen, ist alles in ihr

eine endlose Sekunde lang still, so still wie ein noch zusammengerolltes Blatt, wie ein Autoradio, das man mitten in einem lauten Lied ausgeschaltet hat. Dann fängt alles in ihr an zu rufen. Nein, du darfst nicht, lass mich nicht allein.

Wie schwer Sonja ihre neue Rolle fällt, wie sehr sie sich selbst überfordert, zeigt die Autorin an Sonjas während der Ehe immer wieder hinausgeschobenen Versuch, den Führerschein zu machen. Aber dann, als sie ihn hat, traut sie sich trotzdem nicht zu fahren und stellt den Wagen auf einer freien Fläche ab.

Sie versucht es. Sie versucht es wieder und wieder. Nein, sie versucht jetzt nichts mehr. Nein, jetzt hat sie genug. Sie will nicht länger. Das wird alles nicht besser, es reicht. Und da, gerade als Sonja aussteigen und nach Hause gehen und sich nie mehr einen Millimeterbreit um dieses Auto kümmern möchte – sie möchte morgens in den Spiegel sehen, ohne sich mangelhaft zu fühlen, sie möchte nur noch Dinge tun, die sie selbstsicher und stark machen – da klopft jemand auf die Scheibe.

Bei Sonja gibt es immerhin eine Familiengründung und ein Happy End. Anderen Hauptpersonen ist nicht so viel Glück vergönnt. Ich denke an die Geschichte Gute Nacht, mein Kind, die mich am meisten beeindruckt hat. In ihr bleibt der Ich-Erzähler nach dem Unfalltod seiner Frau Sandra mit seinem vierjährigen Sohn Adrian zurück und gesteht sich irgendwann ein, dass er seinen Sohn nicht liebt.

Ich kann es nicht ertragen, Adrian die ganze Zeit um mich zu haben.
Ich wollte eigentlich keine Kinder.
Erst jetzt wird mir Stück um Stück klar, dass meine Liebe für Adrian vollkommen abhängig war von meiner großen Liebe zu Sandra. Ohne sie ist er mir fremd geworden, ein seltsames Kind.

Die Geschichte endet damit, dass der Ich-Erzähler seinen schlafenden Sohn für immer verlässt und es bleibt der Phantasie des Lesers überlassen, sich Adrians Erwachen vorzustellen.

Auch in anderen Erzählungen ist von Fremdwerden die Rede. Adrian ist dem Vater fremd geworden. Christopher betrachtet ein Foto seiner toten Mutter, die ihm fremd vorkam, Mick denkt, Inga sei ihm fremd geworden.

In keiner Erzählung kann sich die Hauptfigur darauf verlassen, dass ihr bisheriges Leben so bleibt, wie es einmal war. Aber, denkt Leonhard,

es ist ja nie irgendetwas noch wie früher, alles verändert sich, wird verästelter, undurchdringlich.

Bei Leonhard ist es seine Frau, die sich von einer antriebslosen Hausfrau zu einer ehrgeizigen Anwältin entwickelt, woraufhin er den gegensätzlichen Weg nimmt. Bei dem mehr als fünfzig Jahre alten Stoll kommt die Veränderung über Nacht und bedroht sein ganzes bisheriges Leben. Er arbeitet in einer Orangerie an der Kasse, verkauft Eintrittskarten, Getränke und Süßigkeiten und muss vor allem immer wieder das tun, was der Titel der Geschichte fordert: Schließ auf, Stoll. Aber genau das kann er plötzlich nicht mehr.

Das erste Mal passiert es nach Feierabend. Als Stoll die Hand ausstreckte, zitterte sie, und je genauer er hinsah, desto mehr. Er musste die zitternde rechte Hand mit der Linken umklammern, um den Schlüssel ins Schloss zu bringen, trotzdem gelang es ihm erst beim dritten Versuch.

Am Ende der Erzählung erkennt Stoll, dass sein Zittern eine Folge gesellschaftlicher Ungerechtigkeit ist:

Er war morgens der Erste und abends der Letzte. Trotzdem musste er an jedem Monatsende rechnen, trotzdem reichte das, was er verdiente, nur geradeso zum Leben aus. Stoll war für die Türen verantwortlich, die ihm verschlossen waren.

Während sich bei Stoll die Geschichte in Lachen auflöst und er denkt,

dass alles gar nicht so schlimm war,

verspüren Leonhard, Mick, Christopher und der namenlose Ich-Erzähler hauptsächlich Wut. Wut auf das, was mit ihnen geschieht, aber eher noch Wut auf sich selbst. In den meisten Geschichten geht es um Beziehungen und darum, wie schnell deren Balance ins Wanken gerät. Wenn beispielsweise in der Geschichte Der Sohn eine Stalkerin eine jahrzehntealte Ehe gefährdet oder in Sie soll brennen der Freund der Familie ein Pädophiler zu sein scheint.

Franziskas Gerstenbergs Erzählungen lassen den Leser nicht gleichgültig. Man leidet mit den Protagonisten, wenn sie verzweifelt versuchen, mit sich zurechtzukommen. Das liegt auch daran, dass die Geschichten lang genug sind, um Handlung und Personen nachvollziehbar zu entwickeln. Gleichzeitig enden sie teilweise so offen, dass der Leser sie ihn seiner Phantasie weiterspinnen kann.

Franziska Gerstenberg
So lange her, schon gar nicht mehr wahr
Schöffling & Co. Verlag
2016 · 240 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3895613432

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge