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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Aus Trauer und Zorn eine Tröstung

Lyrik von Geoffrey Hill auf Deutsch
Hamburg

Zu den meisten, zu den grundlegenden Dingen, die angesichts des gerade erschienenen Auswahlbandes von Gedichten Geoffrey Hills zu sagen wären, wird der Rezensent sich zurückhalten. Das ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Dort der 1932 geborene, angesehen-etablierte Lyriker und Literaturkritiker, der – so das Nachwort (S. 164) – „in der angelsächsischen Welt […] zu den Größten seiner Zunft“ zählt, hier der … ach, im Vergleich: ein Kiesel. Dort die Zusammenstellung von Texten aus fast 50 Jahren dichterischem Schaffen, hier der begrenzte Versuch das reichhaltige und dichte Material in einer bloß wochenlangen Lektüre zu durchdringen – ohne Zeit und Lust, nachzusehen und aufzubereiten, was Geoffrey Hill sonst noch geschrieben (oder in seinen Oxford-Poetry-Lectures seit 2010 vorgetragen) hat oder wie sein Werk von der Literaturkritik und Literaturwissenschaft üblicherweise diskutiert wird. Obschon es ein solcher ausgreifend-systematischer Auswahlband, wie er in der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser erschienen ist, nahe legt, scheint es dem Rezensenten unmöglich und unpassend, sich zur Person, zum Werk und zum bleibenden Beitrags des Dichters Geoffrey Hill zur Lyrik im Allgemeinen und zur englischen im Besonderen zu äußern. Auch zur Repräsentativität und der Auswahl der Gedichte im vorliegenden Band vermag er sich nicht zu äußern; das mögen andere, berufenere tun.

Insofern ist die Hauptbotschaft der vorliegenden Rezension der informatorische Hinweis, dass es nun (wie man im Nachwort des Übersetzers Werner von Koppenfels liest), erstmals Gedichte von Geoffrey Hill publiziert in einem deutschen Verlag, zweisprachig Englisch/Deutsch zu lesen gibt – abgesehen von Prosagedichten in einer Lyrikanthologie, die von Uwe Kolbe übertragen wurden.

Der Umstand, dass es sich bei diesem Auswahlband um eine deutschsprachige Premiere, erlaubt es dem Rezensenten zumindest teilweise die Scham über seine eigene literaturwissenschaftliche Unbelecktheit und Naivität zurückzudrängen: Dass Geoffrey Hill ein großartiger, wortmächtiger Lyriker ist, den es sich lohnt anzuschauen, dürfe im deutschsprachigen Raum noch einen gewissen Neuigkeitswert haben.

Wenn man – wie der Rezensent es tut – die von Werner von Koppenfels besorgte Textauswahl als repräsentativ für die Poetik Geoffrey Hills betrachtet (versammelt sind Gedichte aus zehn Lyrikbänden von 1959 bis 2007), so ist zuallererst die zunehmende Abkehr von gereimten, metrisch gebundenen und strophenförmig strukturierten Einzelgedichten bemerkenswert. Seit den 1980er Jahren finden sich zunehmend Langzyklen unbetitelter, laufend durchnummerierter Texte in freien Versen. Während Anfangs, bei einer Vorliebe für historische Stoffe und ein lyrisches Einfühlen in fremdländische Protagonisten, die Gedichte Hills noch um voneinander abgrenzbare Einzelthemen und -aspekte kreisen, erscheinen seine neueren Texte nicht nur formal, sondern auch inhaltlich wenig abgrenzbar und fokussiert, assoziativ und collageartig - wie eine Einladung zur Teilhabe an einem sich kraftvoll durch eine weite Landschaft von persönlichen Erinnerungen und mythologisch-realgeschichtlichen Bezügen hinwühlenden Bewusstseinsstrom.

Was sich aber bei Hills Lyrik erhält und durchzieht ist seine wuchtige, teilweise barock-pathetische Sprache, die selbst geschichtliche Ereignisse und Personen des 20. Jahrhunderts (wie die Verschwörer der 20. Juli) in einen archaisch-mythologischen Rahmen transferiert. Als Beispielauszug hierzu der erste Teil aus dem Text „Kanaan“ (S. 83), der an den ersten Weltkrieg erinnert:

„Sie marschieren Gott / zu Gefallen durch Flandern / mit Maschinenpistolen, / Chorälen, Kanonen / aus dickleibiger Bronze, / mit ächzenden Karren, / Baal zu stürzen. An / Kreuzungen hissen sie / Leichen und verschmutzte / Banner des Lamms. / Die Sonne hält Gerichtstag. / Unbeirrt/ heben sich, fallen / die Opfermesser, wie / unbehindert / durch Knochenmasse.“

Bei Hill bleiben biblische Geschichten, die klagend-trotzige Anrufung Gottes, die ganze Geschichte Englands und Europas nicht nur lebendig, sondern auch fortgeschrieben-gegenwärtig – zudem ohne rationalisierend-aufklärerische oder ironisch-postmoderne Brechung, als gäbe es keinen Einschnitt, keine Differenz zwischen der Dunkelheit des Mittelalters und der Düsternis der Gegenwart, insbesondere der Weltkriege und des Dritten Reichs.

Hills thematisch-poetischer Standpunkt scheint damit gewissermaßen wie aus der Zeit gefallen, traditionell abendländisch-europäisch-historisierend und zugleich skeptisch hypermodern: Den modern-westlichen Fortschritts- und Rationalitätsglauben minimierend zu einer allzu jungen, in ihrer Substanz ungefestigt-brüchigen Episode, die einer fortwährenden Befragung und Hinterfragung bedarf. Andererseits: rückgewandt-romantisierend ist Hill keineswegs. Seine Sprache und thematischen Verzweigungen verweisen nicht auf das Gute im Gestern, sondern auf fortwirkende, nicht zu vergessende Martyrien. Wenn man ihm eine gewisse Distanz und Abwendung von der Gegenwart attestieren möchte, dann als Bekenntnis zur Eigenständigkeit und Eigenwertigen der Poesie als schwer-wuchernden Welt aus Klang und Bedeutung. Dazu ein – in dieser  musikalischen Klarheit fast einmalige –Passage aus dem Gedichtzyklus „Der Triumph der Liebe“ aus dem Jahr 1999, nummeriert mit CXLVIII:

„… / so – Croker, MacSikker, O’Shem – ich frage euch: / wozu sind Gedichte da? Sie sollen uns trösten / mit ihrer besonderen Gabe, der perfekten Tonhöhe gleich. / Das wollen wir unserem Staub einprägen. Was sollte / ein Gedicht sein? Antwort: eine Tröstung / aus Trauer und Zorn. Was ist / das Gedicht? Was stellt es dar? Sagt, / eine Tröstung aus Trauer und Zorn. So ist es / schön. Das Ganze nochmal? Aus Trauer und Zorn / eine Tröstung.“ (S. 117, kursiv im Original).

Einiges zu sagen wäre zur Übersetzung; einerseits dankend und wertschätzend für die Bemühung, die Lyrik von Geoffrey Hill in dieser Fülle einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Andererseits punktuell kritisch zu manchen Entscheidungen des Übersetzers bezüglich Wortwahl, Satzstellung oder Zeilenumbruch. Vielleicht mag es dem fehlenden englischen Sprachvermögen oder zumindest der Unkenntnis bestimmter Doppelbödigkeiten im Ausdruck geschuldet sein, aber warum schon im ersten Gedicht des Auswahlbandes (Genesis, S. 4 und 5), die Verszeile „And where the streams are salt and full“ mit „Kaum warn die Ströme geil und voll“ zu übersetzen war, erschloss sich nicht. Auf Seite 72 lautet eine Verszeile „self-portrait with a seraph and a storm“; Seite 73 steht: „Selbstporträt mit Sturm und Seraph“. Und sicherlich war es schwierig, das Gedicht XXXVII auf Seite 106 sprachlich ins Deutsche zu übertragen; dennoch irritieren die im Sinnzusammenhang abweichend gesetzten Zeilenumbrüche. Zu Erläuterung hier das Original und die Übersetzung, die – das ist ein wertvoller Bonus des Bandes – sich jeweils gegenüberstehen:

„Shameless old man, bent on committing / more public nuisance. Incontinent / fury wetting the air. Impotently / bereft satire. Charged with erudition, / put up by the defence to be / his own accuser.”

“Schamloser Alter, ganz versessen darauf, noch mehr / öffentliches Ärgernis zu erregen. Inkontinenz seiner Wut / bettnäßt die Luft. Impotenz / einer Satire von Sinnen. Der Buchgelehrsamkeit / bezichtigt, von der Verteidigung angestiftet, / sein eigener Ankläger zu sein.“

Aber dies sind Kleinigkeiten in einer ansonsten beeindruckenden Übersetzungsarbeit.

Zu dem (sehr informativen) Nachwort des Übersetzers sei nichts gesagt: Schon allein, weil es in seiner intensiven und kenntnisreichen Besprechung nicht nur des Werks von Geoffrey Hill, sondern auch seiner Themen und Symboliken, dem Rezensenten nur allzu klar aufzeigte, was er hätte alles wissen und berücksichtigen müssen, ehe er das Buch hätte besprechen können. Zum Glück kann man’s dort nachlesen.

Geoffrey Hill
Für die Ungefallenen
Ausgewählte Gedichte 1959-2007
übersetzt aus dem Englischen von Werner Koppenfels
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser
2014 · 176 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-446-24488-7

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