Spannung im Netz zwischen Lyrik und Geschichte
„Auch die Lyrik hat umfangreich und differenziert Geschichte thematisiert und reflektiert, nicht weniger als Roman und Drama. Von der Literaturwissenschaft jedoch wurde die Geschichtslyrik bisher kaum zur Kenntnis genommen.“ Leider hat auch der von Heinrich Detering und Peer Trilcke bereits im Oktober 2013 herausgegebene Band bisher (zu) wenig Aufmerksamkeit erfahren, obwohl der etwas aufgeblasen wirkende Slogan „Das erste Überblickswerk zur Theorie und Geschichte der Geschichtslyrik vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ hält, was er verspricht. Die Herausgeber und Autoren haben in zwei Bänden mit insgesamt 1266 Seiten Grundlagen („Teil I: Systematische Aspekte“ und Teil II: Genrefragen bilden den ersten Band) für eine neue literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise geliefert und diese im gleichen Zuge bereits angewendet (Teil III: Historische Studien).
„Offenheit“ ist sicherlich das Wort, welches die übergreifende Herangehensweise gut beschreibt und gleichfalls als Fluch und Segen des Werkes gelten kann. Der Begriff „Geschichtslyrik“ entpuppt sich beim näheren Hinsehen als Worthülle, die jegliche Beziehungen zweier abstrakter Begriffe („Geschichte“ und „Lyrik“) zueinander meint. Das schafft einerseits die Möglichkeit, eine endlose Palette von Themen abzudecken (von Deupmanns „Der Siebenjährige Krieg in der deutschsprachigen Lyrik“ über Deterings „Antigeschichtslyrik und Eschatologie bei Annette Droste-Hülshoff“ bis zu Petras „Geschichtslyrics. Ein exzentrischer Fall: neonazistische Songtexte. Mit einem Seitenblick auf die Gattung >Popsong<“), wirkt jedoch wenig konkret; und ist dennoch letztlich die klügste Variante, einem solchen Mammutprojekt gerecht zu werden.
Damit macht diese Publikation der Bezeichnung „Sammelband“ alle Ehre. Sie überzeugt in der Qualität ihrer Einzelbeiträge und den Reibungen zwischen diesen, dem unüberblickbaren Netz, dass sich zwischen „Lyrik“ und „Geschichte“ spannt. Der Teil I beschreibt dieses Netz, zeigt und erläutert einzelne Fäden und letztendlich wird einem bewusst, dass jedes zu beobachtende Phänomen – jedes Gedicht – ein Insekt ist, das sich verfängt und das wir innerhalb des Netzes rumtragen und dort festschnüren, wo es uns momentan bestens platziert wirkt.
Interdisziplinär betrachtet sind die Stränge vor allem in den Bereichen der Literatur- und Geschichtswissenschaft verankert. Als letzte Konsequenz hätte die Publikation eine produktive Einbeziehung von Historikern ermöglichen können. So bleibt zu hoffen, dass in Zukunft das geschaffene Potential auch von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen und von der Literaturwissenschaft beibehalten wird.
Die Bedeutung dieses Werkes ist womöglich auf lange Sicht nicht zu unterschätzen. Jede Universitäts- und jede kleine und große Lyrikbibliothek sollte ein Exemplar besitzen, jedes Seminar, dass Geschichte und Lyrik nur anspricht, sollte auch diese Bände erwähnen, deren Anreize aufgreifen und in neue Thematiken führen.
Für eine Rezension bringt es keinen Mehrwert, in die Details einzelner Beiträge zu blicken. Auch diese kann nur eine Hülle für das sein, was in der Beziehung zwischen dem abstrakten Rezipienten und dem ausgeklügelten Begriff einer abstrahierten „Geschichtslyrik“ besteht und damit ist an dieser Stelle der Kern angesprochen, jedoch nicht sorgsam ausgefaltet.
Ich kann jedem Leser die Publikation „Geschichtslyrik“ nur ans Herz legen. Die beiden stabilen, auf gutem Papier gedruckten und übersichtlich formatierten Bände überzeugen ihrem Anspruch nach auf ganzer Linie.
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