Mal wieder: Das Drama des zweiten Romans.
1.
Ich habe mich wirklich bemüht. Aber die Geschichte hat mich nicht interessiert. Cooles Gelaber in Jugendsprache mit aufgesetzten Stilbrüchen, dem bekannten Personal – feinfühliges, hyperintelligentes, diskursgezeichnetes, verwahrlostes rich kid verliert die leibliche Mutter bei einem Autounfall, kommt zum bindungsunfähigen Vater mit Vorliebe für Minderjährigensex, trifft die große Liebe, verweigert sich dem Erwachsenwerden und heiratet am Ende katholisch aus Gründen metaphysischer Trostsuche und schwerstromantischer Resterlösungssehnsucht. Der langsam voranschreitende Plot wird ständig unterbrochen durch Kommentare zum Gefühlshaushalt aller Beteiligten, ihren Kunstbetriebssprech, ihre Distinktionssucht, die sie materiell (Kunst, Autos, Klamotten, elektronische Geräte) und immateriell ((Körper-)Sprache, „Kreativität“) ausleben, die langatmig zelebrierte Obergescheitheit der Protagonisten und ihrer Dialogpartner – und der auktorialen Erzählerstimme.
Auch in Hegemanns Erstling „Axolotl Roadkill“ wurde die Hauptfigur, Mifti, durchs volle romantische Sehnsuchtsprogramm gejagt, aber die Form war durchlöchert, nicht an Plotrundung interessiert, die Sprache rau, vertrotzt, kräftig, in ihrer dauerironischen Coolness von Fremd- und Selbstbequasselung die große Leere, Verlorenheit, nicht loszuwerdende Scheißsehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, Wahrheit verratend. Dieses erste Buch habe ich gemocht. Es hatte genug Widerhaken, um meine Leserinnenbenutzeroberfläche zu durchbohren und kleine Krater zu hinterlassen, die immer noch spürbar sind und auf lustvolle Weise schmerzen.
Einige Kollegen haben dem neuen Roman einen „Professionalisierungsschub“ bescheinigt. Unter Professionalisierung scheinen sie asymptotische Annäherung an Mainstream und Mittelmaß zu verstehen. Wenn Professionalisierung bedeutet, dass ein Autor mit Motiven, Sprech- und Erzählweisen so routiniert umzugehen weiß, dass dem Leser dann nicht nur die Füße einschlafen, sondern so ziemlich alles, was das : Geist, Phantasie, Neugier, Vergnügen, Interesse, Lust - dann ist Hegemanns Zweitling ein wirklich sehr professioneller Roman. Der, oho, ja auch ständig seine Wellmadeheit an Artefakten von Porno bis japanischem Splattermovie, französischer Soziologie und Popmusik zur Schau stellt. Zitat des Zitats des Zitats. Gähn.
Das Problem ist, dass er für einen Stoff keine Form jenseits der Klischees gefunden hat. Aber darum geht es doch! Ja, genau.
Das Ende ist dann bester Eichendorff, mal wieder. In zweihundert Jahren nichts dazugekommen. Alle Schauplätze Kulissen. Die Handlung ferngesteuert vom höheren Autorinnenwesen, das nichts sucht, schon gar nicht eine Form erfindet, eine Sprache, mit der, durch die, über die hinaus man irgendwohin kommt, wo man noch nie war. Das Bekanntes, Abgelutschtes bloß noch arrangiert und Auweia-Drastisches mit vermeintliche Sensationsgeilheit befriedigender Geste entblößt. Und einem Happy End, das den Hyperpubertätsennui in einen Zeitlosigkeitsstillstand zu überführen versucht, um der Verzweiflung darüber zu entkommen, dass alles vergänglich ist und wir dem Tode geweiht. Nichts unterscheidet die jugendlichen Protagonisten von ihren abgewrackten Eltern – nichts, als ihre Jugend. Das ist von deprimierender Trostlosigkeit. Und entsetzlich wahr.
2.
Aber die erste Seite.
Die erste Seite sieht so aus:
„Wer kalkuliert, ist ein Feigling.
Kalkulieren besteht in Gewinn- und Verlustrechnungen.
Sterben ist Verlust, Leben Gewinn.
Wer kalkuliert, beschließt nicht zu sterben, stirbt aber trotzdem.
Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide.
Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll.
Jage zwei Tiger.
Written by Laibach, supervised Chris Bohn, published on CD-booklet „Laibach-Kapitel [sic!]“ (Mute Records Limited 1992); translation by Carl G. Hegemann 1997, this version is authorised by NSK. Laibach is part of NSK. NSK is the first global state on earth without territory. Printed by permission.“
Das ist mehr als ein vorangestelltes Motto, das ist ein großes Versprechen. Die Tiger, nach denen der Roman auf die Jagd zu gehen auffordert, sind da mitten im Sprung. Also: spannungsgeladene Exposition. Die sofort gebrochen wird durch die ausführliche, umständliche Quellenangabe (samt ironischem Verweis auf den eigenen Vater – der sogar mit dem Initial seines zweiten Vornamens erscheint, eine Pedanterie, die zu denken gibt): das „Kapital“-Booklet der slowenischen Konzeptrockband Laibach, das 1992 herauskam.
Laibach ist der deutsche Name von Ljubljana, Hauptstadt Sloweniens.
Die Band deutschtümelt. Spielt mit Nazi-Klischees und Fascho-Ästhetik. Das kann man anziehend finden. Oder abstoßend. Oder egal.
1992 ist das Geburtsjahr von Helene Hegemann.
Carl Hegemann, Helene Hegemanns Vater, hat das Laibach-Zitat in seinem Nachruf auf Christoph Schlingensief verwendet, der am 27.5.2011 im Berliner „Tagesspiegel“ erschienen ist.
3.
„Jage zwei Tiger“, das ist der Titel des Romans.
Der letzte Vers des vorangestellten Zitats, „Jage zwei Tiger“, ist der Titel des Romans.
Der Titel des Romans ist „Jage zwei Tiger“.
Die ersten vier Verse und die letzten drei Verse des Zitats stehen in keinem logischen Zusammenhang. Sie suggerieren ihn nur.
Dasselbe gilt für die Verwendung des letzten Verses des Mottos als Romantitel. Ein schöner Titel. Aber ohne jeden Bezug zu Inhalt oder Form oder Anspruch des Romans. Deshalb auch die Auflösung (Klärung der Herkunft des Titel-Zitats und seines Kontexts), noch bevor es mit dem Erzählen losgeht.
4.
Das ist das Strickmuster raunender Ästhetik: Etwas zu verstehen zu geben, wo es nichts zu verstehen gibt. Äußerlich einen Zusammenhang herzustellen, wo kein Zusammenhang besteht. Auch wenn sie hier zeitgemäß ironisch-fuck-you-abgeklärt daherkommt.
Intertextualität? Ach ja, Intertextualität. Bestimmt total lustig und so.
Noch mal: Ich habe es wirklich versucht, aber ich konnte kein Interesse für dieses nichtssagende, unschöne Ding namens „Jage zwei Tiger“-Roman aufbringen. Was für ein müder Aufguss des Erstlings. Wenn Hegemann, dann „Axolotl Roadkill“!
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