Ich töte, also bin ich ...
„Ich lese gerne brutale, realitätsnahe Bücher, doch Hubert Selby übertrifft alles Grausame, was ich bisher gelesen habe. Sein Schreibstil ist gut, doch ich fand das Buch nicht unterhaltsam oder interessant, sondern einfach nur abscheulich und widerwärtig“ –, dass viele Kommentare zu Selbys 1964 erschienenem Last Exit to Brooklyn (hier eine Kundenrezension aus dem Internet) derart drastisch ausfallen, mag nicht verwundern. Amazon-Kundenrezensionen sind oft unbedarft, das Buch ist in der Tat gespickt mit zahllosen Gewaltszenen, Selby schildert mit gnadenlosem Sezierbesteck.
Ob ich aber einem anderen Interneteintrag glauben soll, der vorgibt, der Autor schildere seine Protagonisten nach eigenem Vorbild, der 2004 verstorbene Selby sei ein zur hemmungslosen Gewalt neigender Waffennarr gewesen
Mag sein oder auch nicht, aber ich verstand und verstehe ihn als Protokollanten, als genauen Beobachter und guten Erzähler, im Grunde als einen Kriegsreporter an der (zwischen-)menschlichen Front. Und dass ein Kriegsreporter selbst zur Waffe greift, dass man selbst schießen muss, um das Geräusch eines Schusses beschreiben zu können, erscheint zumindest fraglich.
Last Exit to Brooklyn erschien damals bei Rowohlt. Nach insgesamt vier Büchern war dort Schluss, Ullstein schob 1986 mit dem Lied vom stillen Schnee nach. Dann aber wurde es längere Zeit still um Hubert Selby jr., bis die Achilla Presse die Rechte an zwei Romanen erwarb, die bis dahin noch nicht in deutscher Übersetzung vorlagen. Willow Tree (Im Original The Willow Tree) kam im Jahr 2000 heraus, die 2. Auflage von Galgenfrist (Waiting Period) ist kürzlich erschienen
Zum Einstieg lässt Selby seinen lebensmüden Protagonisten etliche Seiten lang über Suizid und dessen verschiedenste Methoden monologisieren. Kopfwegpusten scheint er letztendlich zu favorisieren, aber alles nicht so einfach, denn zum Kopfwegpusten wäre eine Pistole gut. Aber: „Was mag wohl so eine Pistole kosten? Wie viel Gold ich wohl im Mund habe? Vielleicht sollte ich mir einen alten Nazi suchen, die können auf den ersten Blick sagen, was mein Gebiss wert ist.“ – Nun, nach kurzer Wartezeit und bürokratischen Hürden bekommt er seine Pistole, und dann ... wechselt er urplötzlich die Richtung. Der Leser erfährt, dass es sich bei ihm um einen Kriegsveteranen handelt, der sich von der für ihn zuständigen Veterans Administration benachteiligt und schikaniert sieht, und Selbstmord hin oder her: Langsam aber sicher realisiert er sein Verlangen, den einen oder anderen Vertreter des verhassten Systems mit in die Hölle zu nehmen: „Wenn es schon Tote geben muss, dann sollen wenigstens die Richtigen dran glauben müssen. Mich selbst umzubringen wäre gleichbedeutend mit Mord – die Hinrichtung eines unschuldigen Individuums.“ Seine Wahl fällt auf den Vorsitzenden der VA, einen gewissen Barnard. Er beginnt, Barnard auszuspionieren, philosophiert sich durch seine Sicht der Dinge und fängt an, einen bis ins kleinste Detail gehenden Mord mittels einer aus Apfelsaft und gammligem Hackfleisch selbstgezüchteten Bakterienkultur auszuarbeiten ..
Was soll man sagen: Sein Plan funktioniert. Leider kann er das neue Glück nur sehr phasenweise und kurz genießen, denn erstens gefällt es ihm plötzlich doch nicht mehr, dass Bernard so schnell der Vergiftung erlegen ist („Oh nein, er darf nicht sterben. Er muss leben, unbedingt. Er soll für den Kummer und das Elend, das er angerichtet hat, bezahlen!“), und zweitens ist er ein äußerst wankelmütiger Geist, und so macht ihn auch die Feststellung, dass es ihm auf einmal besser geht, mehr als nervös: „Gesund und normal. Furchteinflößend. Spinnt man nicht, wenn man sich gesund und normal fühlt?“ Und wieder kommen die Selbstmordgedanken in ihm auf, bis er ... ja, bis er durch Zufall im Fernsehen auf einen Bericht stößt, der sein Interesse findet – ein jährlich stattfindendes Fest zu Ehren eines weißen Rassisten, der vor 30 Jahren des Mordes an zwei schwarzen Ärzten angeklagt war und durch eine ausschließlich weiße Jury freigesprochen wurde. Eine neue Aufgabe, die sich schnell als schwierig erweisen soll ...
Der gesamte Text ist ein einziger, in sich selbst kreisender Monolog, ein Fluss aus wechselnden Emotionen, ein nicht abreißender Strom wildester Assoziationen, der in alle Richtungen mäandert, dennoch immer wieder in einem Grundtenor mündet: Die Welt ist ungerecht, das Leben eine sinnlose „Galgenfrist“. Ein Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben und gegen die sozialen Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, welches lediglich durch einige kursiv gesetzte Stellen unterbrochen wird, in denen ein offenkundig allwissendes Medium über die Gedanken des Protagonisten spricht, wobei es ihn gleichzeitig zu lenken scheint.
Schon die früheren Bücher von Hubert Selby jr. haben polarisiert, und auch dieses legt es darauf an.
Fixpoetry 2009
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