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Kritik

Life’s a bitch und die Realität erst recht

20 Jahre nach seiner Veröffentlichung wirft Jean Baudrillards Essay »Das radikale Denken« immer noch Fragen auf. Heute vielleicht sogar dringlicher als damals.
Hamburg

»Life’s a bitch and then you die / that’s why we get high / ’cause you never know when you’re gonna go«, heißt es im dritten Track des wahrscheinlich besten Rap-Albums, das je produziert wurde. AZ heißt der damals blutjunge Sänger, der diese ohrwürmelnde Hooklineim Jahr 1994 über den Refrain des Songs »Life’s A B« vom Debütalbum Illmatic des zu dem Zeitpunkt nicht minder blutjungen Rappers Nas jault.

»La realité est une chienne«, schreibt Jean Baudrillard im selben Jahr in seinem Essay La Pensée Radicale. Auf Englisch: »reality’s a bitch«. Der damals 21jährige New Yorker Rapper und der auf die Siebzig zugehende französische Philosophie, sie hatten es offenkundig beide nicht so mit der Lebensrealität der Mitt-1990er Jahre. Die Motive dafür sehen wohl jeweils anders aus, die dagegen ins Feld geführten Strategien wirken jedoch nur auf den ersten Blick grundverschieden.

La Pensée Radicale liegt seit einiger Zeit in der Übersetzung Riek Walthers im Verlag Matthes & Seitz unter dem Titel Das radikale Denken vor, beigestellt ist dem Text ein Essay von Philipp Schönthaler, der zwar trocken aber informativ das Werk Baudrillards vor seinem ideengeschichtlichen Hintergrund einfriedet und gleichermaßen davon abgrenzt. So wie Nas mit Illmatic einerseits Hip Hop-Geschichte in sich aufsog und entschieden vorantrieb, so arbeitete sich auch Baudrillard mit Streitlust an ideengeschichtlichen Traditionen und zeitgenössischen philosophischen Strömungen ab, um seine eigenen Theorien ins Feld zu führen.

Der Angriff auf die Realität und das Diktat des Realen und Rationalen steht im Zentrum von Baudrillards Text, er definiert den »Glauben an die Realität« als eine »elementare Form des religiösen Lebens«, als » Erkenntnisschwäche, eine Schwäche des gesunden Menschenverstandes und zugleich das letzte Bollwerk der Moralapostel und der Jünger des Rationalen.« Das radikale Denken, das er dagegen postuliert, findet außerhalb der Realität statt. Was aber soll das heißen?

Es heißt, dass diese Hündin Realität eine Illusion ist. Ein Simulakrum, das keine Wahrheit verdeckt, sondern die Tatsache, dass es nach dem Ende der Metaphysik keine Wahrheit mehr gibt. Wo Nas dem Übermaß von Realität auf den Straßen von Queensbridge entfliehen möchte, zweifelt Baudrillard diese ganz allgemein an. »Nur im Schlaf, in der Bewusstlosigkeit und im Tod existieren wir in Echtzeit, sind wir mit uns selbst identisch«, behauptet Baudrillard. »I never sleep, ‘cause sleep is the cousin of death« rappt dahingegen Nas auf »N.Y. State of Mind«. Und dann: »Beyond the walls of intelligence, life is defined.« Wer sich von der Rationalität das Leben abstecken lässt, der vegetiert im Stillstand dahin.

Sowohl Nas als auch Baudrillard begeben sich deshalb an den »Kreuzungspunkt zwischen Sinn und Unsinn, zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen der Kontinuität der Welt und der Kontinuität des Nichts«, um Leben und Realität zu demaskieren. Der eine mit einem Joint in der einen und dem Mike in der anderen Hand, der andere mit seinen philosophischen Schriften. Beide jedoch nutzen dasselbe Medium: die Sprache.

»Was das Sprechen über das Reale betrifft, so ist es unmöglich, im eigentlichen Sinne darüber zu sprechen, da die Sprache niemals real ist«, bringt Baudrillard den inhärenten Widerspruch seiner Kritik, die gleichermaßen laut Schönthaler eine parodistische Kritik der Kritik ist, auf den Punkt. Parodistisch deshalb, weil ihr Ziel wie das Ziel jeder Schreibkunst darin liegt, »ihren Gegenstand zu verfremden, ihn zu verführen, ihn vor seinen eigenen Augen verschwinden zu lassen«. That’s why we get high.

Aber braucht es dazu das Schreiben? Gelingt das nicht auch mit Räuschen und Alternativkonzepten? Mit Rotwein, Weed, Yoga-Kursen, Smartphone-Spielen oder zum Beispiel Shitstorms gegen die sogenannte Lügenpresse? Denn wer sind diese dreisten Medien eigentlich, einfach so Wahrheiten und Tatsachen zu behaupten, wo doch die Hündin Realität nur eine Illusion ist?

Mehr als zwanzig Jahre nach Veröffentlichung von Das radikale Denken hat sich einiges verändert, sind das Leben in der Realität und in den virtuellen Räumen bis zur Unentscheidbarkeit verwachsen und äußert sich lautstarke Kritik an der Darstellung einer rational organisierten Welt, wie sie durch tradierte Informationsträger kolportiert wird. Durch die Argumentationsweisen über die (geo-)politischen Konflikte unserer Zeiten, die Thesen der Montagsdemonstrationen oder PEGIDA zieht sich ein roter Faden, dem oberflächlich betrachtet von Baudrillard Vorschub geleistet wurde: Die Zweifel an einer vermeintlich realistischen Berichterstattung bilden die Krücke für die Verbreitung kruder Ideologien.

Nun würde es dem 2007 verstorbenen Baudrillard aber keineswegs einfallen, sein Postulat vom radikalen Denken zu rechtfertigen. »Jede Idee, die man verteidigt, hält man für schuldig, und jede Idee, die sich nicht selbst verteidigt, verdient es, zu verschwinden«, schreibt er selbst in Das radikale Denken. Was die Verschwörungstheorien und die rigiden Parteinahmen in (geo-)politischen Konflikten in ihrer Medienkritik zudem übersehen: Sie ersetzen nur ein Konzept von Realität durch ein anderes. Illusionär sind jedoch – so würde zumindest Baudrillard argumentieren – beide. So rächt sich die Realität selbst an ihnen. »Letztendlich ist sie wohl doch eher Sphinx als Hündin«, sinniert der selbst über ihren Charakter. Zweifel- und rätselhaft, ambivalent und (Un-)Sinn streuend wie das radikale Denken also.

Das »virale, schädliche, den Sinn korrumpierende Denken, das eine erotische Wahrnehmung der Realitätsverwirrung hervorbringt«, das Baudrillard vorschwebt, hat mehr mit der Lust am Text und seinen Mysterien zu tun als mit bloßen Substitutionsstrategien. Erotik, das ist ein Fallbeispiel in einem anderen der schnieken kleinen Matthes & Seitz-Bändchen für Gegenwartsphilosophie: Die ist uns laut Byung-Chul Han in unserer Transparenzgesellschaft abhanden gekommen.

Gegen die »falsche Transparenz«, die Han protestiert, wendet sich auch Baudrillard, er möchte die Welt »noch etwas rätselhafter« scheinen lassen. Anders aber als Han – der zugegeben aus einer anderen medialen Situation heraus schreibt – sieht er die Möglichkeiten dafür noch nicht begraben. Vielmehr plädiert er leidenschaftlich für die Möglichkeiten der Sprache. Weil sich die Welt mit ihrer Hilfe selbst radikal denken und analysieren kann. That’s why we get high. Deshalb rappen und schreiben Nas und Baudrillard. Ist es nicht irreal verführerisch, dieses radikale Denken?

Jean Baudrillard
Das radikale Denken
Aus dem Französischen von Riek Walther. Mit einem Nachwort von Philipp Schönthaler
Matthes & Seitz
2014 · 64 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
978-3-88221-042-2

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