Reingewaschen von den Erinnerungen
Man könnte David und Simón, den 45 Jahre alten Mann und das fünfjährige Kind, dessen er sich auf der Überfahrt nach Novilla angenommen hat, für normale Flüchtlinge halten. Sie haben eine lange Schiffsreise hinter sich, auf dieser Überfahrt hat David einen Brief, der Auskunft über seine Herkunft hätte geben können, verloren und seitdem übernimmt Simón die Verantwortung für ihn.
Allerdings sind David und Simón, die diese Namen und ihr Geburtsdatum, das auf den Tag der Ankunft im „neuen Leben“ in Novilla angesetzt wird, erst hier erhalten, auf dem Weg über das Meer von jeglichen Erinnerungen „reingewaschen“ worden. Sie haben keine Geschichte.
In Novilla wird Simón und David nach anfänglichen Schwierigkeiten eine Unterkunft zugewiesen. Simón findet Arbeit als Schauermann. Eigentlich fehlt es ihnen an nichts, außer: „Dass es so blutleer ist. Jeder, den ich treffe, ist so anständig, so freundlich, so wohlmeinend. Niemand flucht oder wird zornig. Niemand betrinkt sich. Niemand erhebt auch nur die Stimme. Ihr lebt von Brot und Wasser und Bohnenpaste und behauptet, satt zu sein. Wie kann das sein, aus menschlicher Sicht? Lügt ihr, belügt sogar euch selbst?“
Sind die Menschen in Novilla nur erstaunlich bescheiden, oder tatsächlich derart bedürfnislos?
Simón hat vielleicht keine Erinnerungen mehr an sein altes Leben, aber er hält an den alten Werten fest, die immer noch sein Maßstab sind, so dass das neue Leben, das Leben in Novilla immer nur auf ein Fehlen hinauslaufen kann. Er begegnet jeder Menge Wohlwollen und Güte, aber keiner Leidenschaft, keinen Begierden. Es ist dieses Gleichmaß aus Wohlwollen und Bescheidenheit, das Simón nicht erträgt. „Die Dinge haben hier nicht ihr wahres Gewicht [...] Die Musik, die wir hören, hat kein Gewicht. Unseren Liebesbezeigungen mangelt es an Gewicht. Der Nahrung, die wir essen, unserer traurigen Brotdiät, fehlt Substanz fehlt das gehaltvolle von tierischem Fleisch, mit all dem Ernst des Blutvergießens und des Opferns dahinter.“
Die Menschen in Novilla arbeiten hart, essen bescheiden, haben eine sehr reduzierte Sexualität und verbringen ihre Freizeit in einem Institut, in dem sie sich weiterbilden können, in Philosophie, Aktzeichnen und Buchhaltung.
Diese neue Gesellschaft, in der Coetzee seine Protagonisten landen lässt, stellt unsere Werte und Konventionen radikal in Frage.
Coetzee schreibt in seinem gewohnt nüchternen Stil, ohne viel auszuschmücken und gleichzeitig voller Anspielungen und Doppeldeutigkeiten, die natürlich nicht zuletzt auf den Titel zurückgehen, der beim Lesen immerzu interpretierend mitwirkt. Es gibt kaum einen Satz, ein Wort, in diesem Buch, das nicht auf doppelte Art und Weise gelesen werden könnte. Wie zum Beispiel diese Geschichte mit dem Schwindel, der Simón bei seiner Arbeit am Hafen zu schaffen macht und der gleichzeitig Ausdruck seiner Problematik ist, mit den neuen Regeln klarzukommen, ihnen Glauben zu schenken. „Das ist nur Schwindel“, beschwichtigt ihn Álvaro, sein Vorarbeiter im Hafen, „Viele leiden daran. Zum Glück ist es nur im Kopf. Es ist nicht real. Du musst es ignorieren, dann verschwindet es bald wieder.“
„Aus Wohlwollen entsteht Freundschaft und Glück, ergeben sich gesellige Picknicks im Park oder gesellige Nachmittage mit Spaziergängen im Wald. Während aus Liebe, oder zumindest aus Verlangen in seinen dringlicheren Erscheinungsformen, Frustration und Zweifel und Kummer entstehen. So einfach ist das.“ So einfach ist auch Simóns Verhältnis zu Elena, seiner Nachbarin, der Mutter von Fidél, mit dem David sich angefreundet hat. Und obwohl diese freundschaftlich partnerschaftliche Beziehung David ausreichend Geborgenheit bietet, sucht Simón verbissen weiter nach Davids Mutter.
Schließlich erwählt er aufgrund einer inneren Eingebung eine Frau für diese Rolle. Inés übernimmt die Mutterrolle mit einer Ausschließlichkeit, mit der Simón nicht gerechnet hat, sie verbietet David den Umgang mit seinen alten Freunden und infantilisiert das Kind. „Sie ist wie ein kleines Mädchen mit einer Puppe ein ungewöhnlich eifersüchtiges und egoistisches kleines Mädchen, das niemanden anders sein Spielzeug anfassen lässt,“ faßt Elena Inés Verhalten zusammen. Dennoch hält Simón an seiner Überzeugung fest, dass sie die richtige Mutter für David sei. Nach und nach lässt Inés wieder den Kontakt zu Simón zu, der versucht David Lesen und Rechnen beizubringen, dabei aber auf heftigen Widerstand stößt, da David sehr eigenwillige Vorstellung von den Zahlen und den Buchstaben hat. Diese vertritt er auch, als er eingeschult wird, Konflikte mit dem Lehrer bleiben nicht aus und führen schließlich dazu, dass David auf eine Sonderschule in Punta Arenas geschickt werden soll, getrennt von seiner Mutter und Simón, die ihn nur noch jedes zweites Wochenende zu Gesicht bekämen. So wird die „heilige Familie“, bestehend aus Inés, Simón und David schließlich erneut zu Flüchtlingen. Auf dem Weg nach Estrellita, wo sie noch einmal ein neues Leben beginnen wollen, ist David längst zum Führer geworden, und der Anhalter, den sie auf ihrem Weg auflesen, kann getrost als erster Jünger betrachtet werden.
Coetzee stellt im Verlauf der Handlung zunehmend Gegensätze einander gegenüber, das Archaische wird mit der Technikgläubigkeit kontrastiert, der Stillstand des Wohlwollens und der Genügsamkeit den zwangsläufigen fortwährenden Veränderungen durch Leidenschaft und Ehrgeiz gegenüber gestellt, die Ideen der Wirklichkeit.
Was real ist, und was richtig, das sind überhaupt die leitenden Fragen dieses Romans. David, ein erstaunlich intelligentes und eigensinniges Kind, lernt mit einer Kinderausgabe des Don Quijote lesen, also mit einer Figur, die der alltäglichen Wahrheit ihre eigene Wahrheit entgegenstellt. Auch hier geht es um den Widerstreit zwischen Idee und Realität. Entscheidend ist das Bild, das man sich macht, und vielleicht noch die Frage, wie groß der Spalt ist, zwischen dem eigenen Bild und dem der anderen, damit man sich zwischen beiden bewegen kann, ohne abzustürzen.
Die Kindheit Jesu ist ein Roman, der auf so vielen Ebenen gelesen werden kann, dass sein Potenzial unmöglich in einer einzigen Besprechung ausgeschöpft werden kann. Es geht um alles, um Glaube, Liebe, Hoffnung, aber auf der Grundlage der Fragwürdigkeit, wobei Coetzee die Würde der Fragen rehabilitiert. Vielleicht ist „Die Kindheit Jesu“ in erster Linie ein Roman über die Fragwürdigkeit. Unter den Antworten, mit denen wir selbstverständlich leben, liegen die Fragen, die immer wieder neue Geschichten erzählen.
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