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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Im Widerschein der Kommunikatoren

Jochen Beyse hat eine hellsichtige Parabel über die Black Box der Postmoderne verfasst.
Hamburg

Es gibt: Konglomerate und Konsortien.Technikmärkte, Lebensmitteldepots und Pipelines. Es gibt: Hunde mit blauem Fell und Männer in Orange. „Im Osten ungezählte Schlachthöfe, im Westen die Zuchtanstalten, angeblich.“ Und die vage Vorstellung, dass es in anderen Territorien nicht viel anders aussieht, weshalb sich das Weggehen auch nicht wirklich lohnt.

Auf gerade einmal 110 Seiten entwirft Jochen Beyse eine so poetische wie beklemmende Zukunftsdystopie, die uns – obwohl geografisch referenzlos und in einer unbestimmten Zeit angesiedelt – immer wieder erschreckend vertraut erscheint. Dabei verzichtet „Lawrence und wir“ bewusst auf Identifikationsfiguren – ja, es ist nicht einmal klar, wer eigentlich spricht. Häufig geraten die Gedanken in Leerlauf, wird ein Satz abgebrochen und mitten im Sprechen modifiziert, sodass die Illusion eines inneren Monologs entsteht. Ein „ich“ jedoch gibt es nicht, nur ein „man“ und ein „wir“. „Wir“, das sind unzählige Wanderarbeiter, die in Zeltsstädten zusammengepfercht wohnen und in riesigen Aluminiumhallen Tätigkeiten nachgehen, deren Sinn sie nicht verstehen. Die Männer in Orange teilen die Arbeit zu, doch auch sie sind nur Zahnrädchen in einem größeren System, das zu durchschauen sich niemand anmaßt. „Wie eine von Magnetstürmen verrückt gemachte Kompassnadel zittert man hierhin, dahin.“

Einzig die „Titanenköpfe“ Gorgon und Kronos verstehen möglicherweise die ordnenden Kräfte, die unsichtbar im Hintergrund agieren. Ob die Akademiepräsidenten real oder nur virtuell existieren, ist nebensächlich. So oder so entfaltet das Spiel um die „Kuppeln des Wissens“, das fast alle Bewohner der Zeltstädte auf ihre „Geräte“ – anscheinend eine Abwandlung heutiger Smartphones – geladen haben, seine Wirkmacht: Nicht nur die Verlockung des Hauptgewinns, sondern vor allem das Ausschalten jeglicher Bedürfnisse, die realen Verhältnisse zu ändern. „Fast jeder sehnt sich nach … wonach denn, nein, nichts, keine Sehnsucht: Das künstliche Sternenlicht der Kommunikatoren entzündet keine solchen Gefühle.“

Ausgerechnet in der hallengroßen Abortanlage taucht eines Tages Lawrence auf, eine imposante Erscheinung in Stiefeln, Uniform und Helm. Obwohl – oder gerade weil – er mit niemandem spricht, erscheint er überlegen, vielleicht sogar allwissend. Rasch breiten sich Gerüchte um sein Wesen und seine Bestimmung in der Zeltstadt aus. Nicht lange, und in Lawrence bündeln sich vage Hoffnungen auf einen Anführer. Die Mission jedoch bleibt ohne Zielsetzung – anstatt vorhandene Energien zu bündeln, entsteht eine absurde Kreisbewegung.

Beyse hat das Paradoxon so verblüffend wie plausibel inszeniert: Gerade die Hoffnung auf einen Ausbruch aus dem Gegebenen verfestigt hier den Status Quo. An die Stelle individueller Suchbewegungen tritt eine Projektionsfigur, die im Verlauf der Geschichte immer irrealer erscheint, jedoch das System ebenso verlässlich am Laufen hält wie die Aussicht auf den Hauptgewinn in einem Spiel, das niemand je gewinnen wird.

„Hauptsache, es geht in den Handmulden etwas bunt zu, spielerisch bunt. Und wenn die Leute wie die Verrückten spielen, durchleuchtet der Widerschein ihrer winzig kleinen Geräte das Fleisch der Hände grünlich, grünlich oder bläulich, das Fleisch nimmt eine besondere Färbung an, wenn wir spielen.“  Diese Beschreibung könnte locker der Jetzt-Zeit entstammen – schon heute hat sich die Technik unlösbar mit dem Körper verbunden, automatisieren sich die Wischbewegungen übers Display bereits im Kleinkindalter, poppen noch in unseren Träumen neue Messages am unteren Blickfeldrand auf.

Aber verhilft uns die Technik in unseren Händen wirklich zu mehr Verständnis, zu mehr Kontrolle über das, was mit uns geschieht? Tatsächlich bedienen wir lediglich mehr oder weniger geschickt die Benutzeroberfläche jener Black Box, die wir „Realität“ nennen.

Die Türme, von denen aus die Menschen ihre Umgebung zu überblicken versuchen, von denen sich manchmal auch einer in den Tod stürzt – wozu dienen sie? Sind es Funktürme? Sendemasten? Oder bloße Aussichtsplattformen?

Surreal-poetische Passagen läuten die ritualisierte Wiederkehr des Immergleichen ein: „Die Herden kommen und gehen. Zwischen den Hügeln tauchen sie auf, nachts schimmert im Mondlicht ihr Fell.“ Es könnte auch von Kriegen die Rede sein, die irgendwo begonnen werden und wieder enden, von Aktienkursen, die jenseits unseres Zugriffs steigen oder fallen – von all jenen Kräften also, die kein einzelner durchschaut, und die doch unser Leben bestimmten.

Beyse hat die essentiellen Verunsicherungen unserer Zeit in eine so hellsichtige wie düstere Parabel gefasst – „Lawrence und wir“ ist ein absoluter Glücksfall für die Fans literarischer Science Fiction.

Jochen Beyse
Lawrence und wir
diaphanes
112 Seiten · 9,95 Euro
ISBN:
978-3-03734-879-6

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