Kritik

„So macht also die Chemie ihre Bilder.“

Hamburg

Meine Erinnerung an den Chemieunterricht dürfte mehr oder weniger exemplarisch für meine Generation sein. Ein Saal mit den Periodentafeln der Elemente an den Wänden, ein Lehrkörper im weißen Kittel, der ab und zu Flüssigkeiten in Reagenzgläser schüttet und vermischt. Von Friedlieb Runge hat uns jedenfalls niemand erzählt und von seinen faszinierend schöne Ergebnisse hervorbringenden Versuchen zum Bildungstrieb der Stoffe erst recht nicht.

Ein Versäumnis, das die Reihe „Naturkunden“, zu Recht hoch gelobt und ausgezeichnet, nun mit einem wunderschönen Bildband wieder gut macht.

Runge, Professor für Gewerbekunde, beschreibt in seinem jetzt von Naturkunden wieder aufgelegten, ursprünglich im Selbstverlag erschienenen Buch aus dem Jahr 1855, die Entstehung seiner durch den „Bildungstrieb der Stoffe“ hervorgebrachten  Bilder, indem er berichtet in welcher Reihenfolge welche Stoffe auf welches Papier aufgebracht worden sind. Runge schreibt: „Ich stelle, wie hier im Folgenden, stets 2 Bilder derselben Art nebeneinander; um zu zeigen, mit welcher Gesetzmäßigkeit der Bildungstrieb bei gleichen Stoffen und gleichen Bedingungen sich in seinem Erzeugnis wiederholt.“

Runge war überzeugt davon, dass Naturkunde und bildende Kunst zusammengehören, einander befruchten können und sollten. Von den bei seinen Experimenten zur Scheidekunst entstandenen und in dem Musterbuch aufbewahrten Bildern schreibt er, es sei offensichtlich, „dass hier [nicht] von einer Willkür, wie sie der Pinsel übt“, die Rede sein könne, vielmehr ist es der Bildungstrieb der Stoffe selbst, der diese unnachahmlichen Zeichnungen entstehen lässt.

Begonnen hat alles damit, dass Runge die aufeinander wirken sollenden Stoffe nicht mehr, wie üblich, im Reagenzglas gemischt hat, sondern sie tropfenweise auf Löschpapier aufbrachte. Die Bilder, die dabei entstehen, sind filigran, einzigartig und wirklich wunderschön. Durchsichtige Aquarelle, Farbexplosionen, die beeindrucken, obwohl sie nur einen Teil ihrer Wirksamkeit entfalten können. Durch das Aufkleben der Proben geht das Durchsichtige, das Spiel mit dem Licht, das durch das Blatt fällt, das von beiden Seiten betrachtet werden kann, verloren.

In seinem  Eine der Tafeln zeigt dann auch den Bildungstrieb der Stoffe in den unterschiedlichen Stadien vom Keim, über das Werden, bis zur Vollendung.

Dabei bringt der Bildungstrieb der Stoffe nicht nur die ungewöhnlichen Formen, sondern sogar die Farben selbst hervor. „Wirklich fertige Farben gebraucht man zu diesen Bildern nicht. Der Bildungstrieb malt in seiner Art nicht nur besser, als irgendein Maler malen kann, sondern er macht sich auch die Farben selbst, daher die wunderbaren, oft ganz unnachahmlichen Farbtöne.“

Am Ende seines Buches zieht Runge die Konsequenz aus seinen Versuchen und Beobachtungen: „Nach allem glaube ich nun die Behauptung aussprechen zu dürfen, dass bei der Gestaltung dieser Bilder eine neue, bisher unbekannt gewesene Kraft tätig ist. Sie hat mit Magnetismus, Elektrizität und Galvanismus nichts gemein. Sie wird nicht durch ein Äußeres erregt oder angefacht, sondern wohnt den Stoffen ursprünglich innen und zeigt sich wirksam, wenn diese sich in ihren chemischen Gegensätzen ausgleichen, d.h. durch Wahlanziehung und Abstoßung verbinden und trennen. Ich nenne diese Kraft „Bildungstrieb“ und betrachte sie als das Vorbild der in den Pflanzen und Tieren tätigen Lebenskraft.“

Friedrich Weltzien, Professor an der FU Berlin, fasst in seinem Nachwort die chemischen Vorteile der Aufbringung der Stoffe auf Papier zusammen: „Die Scheidekunst, also die chemische Analyse unter Laborbedingungen, erhält hier eine Visualisierungsmethode, die ihren Vorgängerverfahren im Reagenzglas durch die Dauerhaftigkeit der Spuren auf dem Löschpapier bei Weitem überlegen ist. Runge legt damit die Basis für eine Methodik, die später Chromatografie genannt werden wird und seither zur universitären Ausbildung eines jeden Chemikers gehört.“ Er setzt Runge, dem offensichtlich die Ästhetik seiner Versuche ebenso wichtig gewesen ist, wie ihr chemischer Nutzen, mit Vorläufern und Schülern der Theorie vom Bildungstrieb der Stoffe in Verbindung, und würdigt seinen Einfluss auf die bildende Kunst, indem er den Einfluss von Runges Bildungstrieb der Stoffe, sowohl auf Jugendstil und Surrealismus, als auch auf die experimentelle Fotografie von Alexander Rodtschenko, bis hin zu Andy Warhol nachvollzieht.

Ebenso wie die Fotografie, die etwa zeitgleich mit Runges Chromatografie aufkommt, versteht Runge seine „Professorenkleckse“ als „Zeichenstift der Natur“, wie Talbot sein Fotografieprojekt nannte. Entscheidend ist sowohl in der Fotografie als auch bei Runges chemischen Verfahren, dass nicht menschliche Willkür, nicht die Perspektive eines Malers, sondern die Natur selbst ihre Wahrheit abbildet. Runge stellt „eine Kunst in Aussicht, die de facto lebendig wäre, deren Hervorbringung sich denselben formgebenden Kräften verdankt, wie das Leben selbst.“

Runge, 1795 in Hamburg geboren, wird zunächst Apotheker, bevor er 1818 in Göttingen, wo der Biologe Johann Friedrich Blumenbach lehrt, ein Studium der Chemie aufnimmt. Blumenbach vertritt seit 1781 den Bildungstrieb als formgebende Kraft für Pflanzen und Tiere. Weltzien führt Kant, Herder, Schiller, und nicht zuletzt Georg Christoph Lichtenbergs Staubfiguren an, um zu illustrieren, wie sehr damals Naturwissenschaft und Ästhetik, Reproduktionsbiologie und Fantasie als miteinander verbunden gedacht wurden.

Runge ist erfindungsreich, auch was die mögliche Verwendung seiner Entdeckung angeht. So sieht er Einsatzmöglichkeiten seiner Chromatografien in der Herstellung von fälschungssicherem Papiergeld. Aber er träumt auch davon, seine „Kleckse“ mögen Eingang in die Musterbücher der bildenden Künste finden. Als Vorbilder für Zeichnungen und Gemälde, aufgrund ihrer Lebendigkeit. „In ihrer Lebendigkeit sind sie, ganz in Goethes oder Kants Sinne, mustergültig“, schreibt Runge, der durchaus den Anspruch erhebt, ein eigenständiges Medium entwickelt zu haben.

Eine weitere bahnbrechende Entdeckung Runges war die Entwicklung synthetischer Farbstoffe, die BASF später reich machten, während Runge nicht davon profitierte. Immer wieder wurden Runges weitsichtige Vorschläge abgelehnt, die Vermarktung eigener Erfindungen gelang ihm nicht, er war „weder Diplomat noch Kaufmann“, obwohl es ihm bei seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen stets um den praktischen Nutzen ging.

Ihm gelangen „bahnbrechende Entdeckungen, die sich nachhaltig auf die industrielle Entwicklung der Zukunft auswirken sollten“, dennoch hat der Mann, der sich Zeit seines Lebens von Forschungsprojekt zu Forschungsprojekt hangelte, uns ein reiches Erbe hinterlassen.

Das Besondere an diesem Buch (das damit stellvertretend steht für das Programm der Naturkunden) ist der sinnliche Zugang zu naturwissenschaftlichen Phänomenen, eine überaus befruchtende Synthese von Schönheit und Wissen, Wissenschaft und Kunst. Und so ist dieses Buch beides: Ein Beitrag zur Wissenschaft und ein wunderschöner Bildband.

Judith Schalansky (Hg.) · Friedlieb Ferdinand Runge (Hg.)
Der Bildungstrieb der Stoffe
Reihe Naturkunden, mit circa 80 farbigen Bildern, Folio-Format ( 21 × 33 cm)
Matthes & Seitz
2014 · 114 Seiten · 68,00 Euro
ISBN:
978-3-88221-936-4

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