Ein Stück Popgeschichte
In einer Zeit als die revolutionären Forderungen der 68er-Generation in dickschädeligen Dogmen und einer restriktiven political correctness erstarrt sind und der deutsche Herbst sich ankündigt, wird die deutsche Musikszene plötzlich von einer heftigen Bewegung erfasst. Der Status Quo scheint in den Jahren 1976/1977 ebenso statisch wie die soziale Situation: Krautrock hat sich mit seinem Kommunenspirit und den ausufernden Mega-Jams schlicht überlebt, eine Band wie Kraftwerk zielt mit ihrer latenten Zuschaustellung von Wohlstand und Zukunftsoptimismus an der Alltagsrealität vorbei und die Leitkultur wird von mittelmäßigen Schlager-Kopien amerikanischer Hits dominiert, die weder der sonischen Dichte noch dem Sex-Appeal einer Phil Spector-Produktion das Wasser reichen können, geschweige denn über so etwas wie eine eigene Identität verfügen. Der Status Quo wird sich nicht lange halten können.
Die Initialzündung dessen, was heute nur noch notdürftig mit dem Namen Neue Deutsche Welle beschrieben werden kann, ging damals von woanders aus. Die Punk-Bewegung in den USA (mit ihren Hauptvertretern Ramones) und Großbritannien (deren Sex Pistols tatsächlich so etwas wie poster boys, ja Marionetten dieser scheinbar anti-bürgerlichen Revolte darstellten) zog schnell internationale Aufmerksamkeit auf sich. Trotz aller musikalischen und ideologischen Vorläufer: Punk erst bedeutete eine entscheidende kulturelle Zäsur, war ein globaler Schock. Einer, den in Deutschland eine ganze Generation dankbar aufnahm.
»Die Schatten der Vergangenheit / wo ich auch geh‘ da sind sie nicht weit« sind die ersten Zeilen, die Peter Hein auf dem ikonisch gewordenen Album Monarchie und Alltag seiner Band Fehlfarben singt. »Ich schau‘ mich und seh‘ nur Ruinen«, heißt es im Song Paul ist tot. Hein, der auch bei den Bands Charley’s Girls, Mittagspause und Family 5 aktiv war, lieferte mit seinen Lyrics zu Songs wie »Hier und Jetzt« rückblickend betrachtet die wohl eindringlichste Beschreibung der Gegebenheiten, mit der sich seine Generation konfrontiert sah. Neben vielen anderen Akteurinnen und Akteuren der Zeit berichtete er im ebenso bahnbrechenden wie umfangreichen Buch Verschwende deine Jugend von einer Zeit, als in Städten Düsseldorf und Hamburg und dem westlichen Teil Berlins die Attitüde des Punks erst assimiliert, dann in einen ganz eigenen Sound, ja eine eigene Identität transformiert und in eine Infrastruktur übersetzt wurde, die den Zwängen des Mainstreams nicht nachgeben wollte. Ein neues Selbstverständnis, ein neues Lebensgefühl hatte seinen Kanal gefunden.
Verschwende deine Jugend– wie der Film selben Titels benannt nach einem Song der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft, die beiden überschneiden sich inhaltlich jedoch kaum – wird nun, gut zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, neu aufgelegt, mit mehr Fotos, mehr Interviewausschnitten, die sich im Laufe einer dreijährigen Recherchearbeit angesammelt hatten. Im Jahr Eins nach Simon Reynolds halb analytisch, halb anekdotenhafter Untersuchung Retromania (die Ende des Jahres noch im Ventil Verlag in deutscher Sprache erscheint) wird diese oral history vielleicht noch kritischer zu betrachten sein als noch zuvor: Gibt es in diesem Buch noch mehr zu entdecken als Trigger für unser Nostalgiebedürfnis, Versatzstücke einer innerlich disparaten Ästhetik, die wir uns nun so zurecht legen, dass ein schlüssiges Gesamtbild entsteht, Projektion unserer Sehnsucht nach Gossenromantik? Kurz gesagt: Hatte das, was damals geschah, eine Bedeutung die über sich hinaus wies und ihr kulturelles Umfeld wirklich prägte? Mit dieser Frage steht oder fällt auch die Bedeutung des Buches, für das Herausgeber Jürgen Teipel die Generation von damals auf ihr Selbstverständnis, ihre Ideen und ihren Werdegang befragte.
Wie disparat sich diese Bewegung war, lasst sich an einem Vergleich zwischen Bands wie den Einstürzenden Neubauten, Fehlfarben, Malaria, Deutsch-Amerikanische Freundschaft und den Neonbabies leicht feststellen. Dass all diese Bands doch etwas eint, dürfte jedoch ebenso klar werden. Der spirit des Punk mit seiner anti-bürgerlichen Ausrichtung versprach ungeahnte Freiheiten in einer Gesellschaft, die zu stagnieren schien. Dazu kamen die technischen Errungenschaften der 70er Jahre. Nachdem die Ramones, die Sex Pistols und The Damned den vorzeitigen Siegeszug des Dilettantismus über die Virtuosität angetreten hatten, konnte sich nicht nur jeder Mensch als Musiker verstehen – natürlich findet auch Joseph Beuys und dessen berühmtes Diktum vom Künstler, der in uns allen steckt, Erwähnung – sondern hatte auch endlich die Möglichkeiten, als billige Synthesizer auf den Markt kamen. Klaus Schulze und Tangerine Dream mit ihren riesigen Türmen und pompösen Kompositionen waren out, es herrschte die Lust an der Simplizität und am Kaputten. „Am Anfang war ja nicht klar gewesen, was Punk überhaupt war und welche Grenzen es hatte“, resümiert Diedrich Diedrichsen, der als Redakteur des Sounds maßgeblich den Diskurs über das neue Phänomen journalistisch rezipierte. Eben diese mangelnde Trennschärfe erlaubte den Bands die größtmögliche Kreativität.
So beließ man es nicht nur bei der Musik des Punks und nahm noch in dessen Sinne alles mit, was die äußeren musikalischen Einflüsse wie auch das eigene Umfeld boten. „Ich steh auf Krach / und ich steh auf Steine“ singt Blixa Bargeld krächzend in „Steh auf Berlin“ vom Einstürzende Neubauten-Album Kollaps. „Ich steh auf Krankheit / ich steh auf Niedergang / ich steh auf Ende“. Rekurrierende Themen – beinahe ebenso spruchreif wie S.Y.P.H.s Forderung »Zurück zum Beton« – die Bargeld da in Worte fasst. Eine nahezu morbide Faszination am modernen Leben und dessen Idiosynkrasien zieht sich durch fast alle Texte der Zeit. In ihren Anekdoten und Reminiszenzen lassen die Hauptfiguren der Zeit alles wieder aufleben und Teipel strickt aus den einzelnen Statements eine Geschichte, die packender nicht sein könnte.
Alternative kulturelle Zentren wie der Ratinger Hof in Düsseldorf – dessen Atmosphäre Thomas Kling Mitte der 80er Jahre in einer Sprache festhalten sollte, die sich viel von den musikalischen Techniken der Bands lieh, von denen hier gesprochen wird – das Krawall 2000 in Hamburg oder die Berliner Szene rund um das Eisengrau schießen förmlich aus dem Boden. Es wird sich geprügelt, es wird gesoffen, es schießen Bands aus dem Boden, deren Besatzungskarusselle mit einem Affenzahn rotieren. Mit schonungsloser Offenheit und mal mehr, mal weniger Chuzpe wird von Animositäten, Affären und jugendlichem Leichtsinn berichtet, ab und zu einsichtig oder amüsiert über die Dummheiten reflektiert, die sich damals zutrugen. Gescheiterte Figuren kommen zu Wort, berichten von Läuterungsprozessen. Sie zeichnen das kaleidoskopische Bild einer sechs Jahre andauernden Phase, die ähnlich schnell ihr Ende gefunden hat, wie sie ihren Anfang nahm, deren Nachwirkungen aber nicht zu leugnen sind.
Die Generation von Musikerinnen und Musikern, die in Verschwende deine Jugend von ihren wilden Jugenderinnerungen erzählen, sie haben ihren wesentlichen Teil zu unserer Popkultur beigetragen. Tragischerweise jedoch haben sie auch einer Leitkultur den Weg geebnet, die all die Errungenschaften ihrer Pioniere in nur wenigen Jahren beinahe ins Vergessen geraten ließ, sie bis zur Unkenntlichkeit verwischte. Dass ein Campino mit seinen Toten Hosen seit Jahren wieder und wieder das Mittelmaß und einen verschwommenen, Mainstream-affinen Abwasch von Punk reproduziert und damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, sein Idol Peter Hein in kommerzieller Hinsicht weit hinter sich lassend, ist schwer zu schlucken, aber bittere Realität.
Ebenso wird deutlich, dass diese Neue Deutsche Welle, wie man korrekterweise sagen müsste, schwänge nicht auch in dem Begriff Reminiszenzen an hirnlose Schlager wie »Ich will Spaß, ich geb Gas« mit, in ihrer Lust auf Provokation und Ambivalenz noch ganz anderem Gedankengut den Weg geebnet hat.
Ben Becker outet sich als Trittbrettfahrer und scheint noch in der Zeit, als er Jürgen Teipel seine Erinnerungen diktierte, einen perversen Stolz darauf zu empfinden, so Punk zu sein eine US-amerikanische, mit Hakenkreuzen statt Sternen bestickte Flagge als Bettdecke zu benutzen. Auch Gabi Delgados Aussagen zur paramilitärischen Ästhetik seines Projekts Deutsch-Amerikanische Freundschaft und deren stetiger Koketterie mit Nazi-Phrasen und faschistischer Ideologie lesen sich wie unreflektierte, teilweise begeisterte Statements zu einer Provokationshaltung, die in der Tat die Grauzone erst salonfähig gemacht hat. Sie haben es Bands wie FREI.WILD und den Böhsen Onkelz ermöglicht, auf Akzeptanz zu stoßen und ihr Kapital daraus zu schlagen, dass sie als politically incorrect gelten. Rammstein haben mit ihrer Liebäugelei mit deutschen Klischees und einer stereotypen Ästhetik, die sich auch aus dem Sound dieser ersten Neuen Deutschen Welle speist, internationale Bekanntheit erlangt. Die Neue Deutsche Welle hat als gleichermaßen hirnloser Popmusik eine Erfolgsgrundlage verschafft wie auch pseudo-provokante Deutschtümelei ohne folkloristische Patina vorbereitet.
Sie hat auch gesellschaftliche Veränderungen nach sich gezogen. Ihr Wille zur Freiheit und zum expressiven Ausdruck hat sich tief ins kollektive Selbstverständnis geprägt. Wer sich heute die Haare grün färbt ohne dafür Prügel zu kassieren, verdankt das der Unbeirrbarkeit, mit der die Personen, die mit ihren Kommentaren und Erinnerungen zur Zeit eine unterhaltsame und spannende Geschichte Stück für Stück zusammensetzen, ihre Ziele verfolgt haben. Dass musikalischer Erfolg abseits der Angepasstheit möglich ist, dass Selbstverwaltung und eine alternative Infrastruktur nicht zum Scheitern verurteilt sind, haben sie bewiesen. Das beantwortet schließlich die Frage nach der Bedeutung dieser eruptiven Bewegung. Und damit auch nach der von Verschwende deine Jugend.
Obwohl sich ein Fehlfarben-Comeback im Jahre 2012 wie eine schale Angelegenheit anfühlt, dieses Buch ist es nicht. Es spricht von einer Zeit, die prägend für die deutsche Popkultur war und prägt ebenso sehr mit jeder Lektüre. Es ist der definitive Schlüssel zum künstlerischen Selbstverständnis einer Generation, deren Licht- und Schattenseiten gleichermaßen nach außen gekehrt werden. Eine essentielle Lektüre und zudem selbst ein Stück Popgeschichte ist Teipel gelungen – vielleicht nicht tagesaktuell, mit Sicherheit nicht retro. Sondern schlichtweg zeitlos.
Fixpoetry 2012
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