Von Höhenflügen und Leben mit der Tiefe
Während der Schutzumschlag der englischen Originalausgabe mit einem Foto von Julian Barnes zusammen mit seiner Frau Pat Kavanagh einen Hinweis auf den autobiografischen Hintergrund des Buches liefert, lenkt das Bild der deutschen Ausgabe - ein Heißluftballon auf blauem Hintergrund - die Leseerwartung zuerst in eine andere Richtung. Tatsächlich erzählt Barnes drei Geschichten: von den ersten Aeronauten, die mit ihren Ballons die Sünde der Höhe begingen, von einer unglücklichen Liebesgeschichte, am meisten aber von seinem schwierigen Weiterleben nach dem Tod seiner Frau.
Man bringt zwei Dinge zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden, und die Welt hat sich verändert.
Dies ist der erste Satz der ersten Geschichte und wie ein Leitmotiv wird er bei jedem Kapitel in leicht abgeänderter Form wieder aufgegriffen. So beginnt das zweite Kapitel, das die Liebesgeschichte erzählt, folgendermaßen:
Man bringt zwei Dinge zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden; und manchmal funktioniert es, manchmal nicht.
Beginnen wir mit den Ballonfahrern. Hier berichtet der Autor von historischen Personen und Ereignissen, von gelungenen Flügen und Abstürzen, die sich so, wie er es erzählt, zugetragen haben. Die Ballonfahrer waren die damaligen Helden. Ballonfahren stand für Freiheit, es wurde experimentiert, sie erfanden Geräte und zum ersten Mal konnte der Mensch den Raum Gottes besuchen. Fliegen führe zur Demokratie, begeisterte sich Victor Hugo. Derjenige, der aber zwei Symbole der modernen Zeit zusammenbrachte, war Félix Tournachon, genannt Nadar, nämlich Aeronautik und Fotografie. Er fotografierte sowohl aus der Höhe - einer seiner Ballons hatte sogar ein Fotolabor an Bord – als auch in der Tiefe. Er stieg in Abwasserkanäle und in Katakomben, und diese psychologische sowie physiologische Tiefe war nur eine der Metaphern, die Barnes im letzten Teil des Buches wiederaufgreift.
Im zweiten Kapitel Auf ebenen Bahnen wird von der Liebesgeschichte zwischen der Schauspielerin Sarah Bernhard und dem Ballonflieger Fred Burnaby. In diesem Teil beschreibt Barnes eine Szene, die er im letzten Kapitel wieder aufgreift. Fred erzählt, um Sarah zu imponieren, wie er einmal mit anderen Aeronauten hoch über den Wolken geflogen ist und die Sonne auf die Wolkendecke ein Schattenbild seines Ballons warf. Dieses Bild greift Barnes in dem Teil Der Verlust der Tiefe wieder auf.
Einer der drei sah die Erscheinung als Erster und machte die anderen darauf aufmerksam. Die Sonne projizierte das Bild des Luftfahrzeuges auf die flaumige Wolkendecke unter ihnen: den Gassack, die Gondel und die klar umrissenen Silhouetten der drei Aeronauten. Burnaby verglich das mit einer »riesenhaften Fotografie«. Und so ist das auch mit unserem Leben : so klar so sicher, bis das Bild aus irgendeinem Grund – der Ballon bewegt sich, die Wolken lösen sich auf, der Sonneneinfall verändert sich - für immer verloren, nur noch der Erinnerung zugänglich, zu einer Anekdote geworden ist.
Damit sind wir mitten in der Abhandlung, dem Essay über das Leiden nach dem Tod eines geliebten Menschen. Wie schon in seinem letzten Buch Vom Ende einer Geschichte geht es Barnes auch hier um die Erinnerung. Nur dass es hier um ihn selbst geht, um etwas, das nicht fiktiv ist, sondern das er selbst erlebt. Dieser Teil des Buches ist in Ich-Perspektive geschrieben und der Autor, durch den Tod der geliebten Frau sozusagen aus dem eigenen Leben vertrieben, sucht tastend nach dem Muster, nach dem er weiterleben kann. Er möchte seine Frau festhalten, spricht mit ihr, träumt von ihr. Er denkt an Selbstmord und beurteilt Freunde danach, welche Fragen sie stellen, welche Ratschläge sie geben. Nicht jeder besteht die Prüfung.
Nun wird deutlich, dass die beiden ersten Kapitel auf das letzte vorbereiten, Barnes bewundernswert Metaphern und Themen verschränkt. Immer wieder wird auf die Ballonfahrt Bezug genommen und Ereignisse, die man zuerst als einzelne wahrgenommen hat, werden in einen größeren Zusammenhang gestellt. Auch das letzte Kapitel fängt in gewohnter Manier an, führt die bisherigen Themen weiter aus und spricht gleichzeitig vom Verlust seiner Frau.
Man bringt zwei Menschen zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden. Manchmal ist das wie jener erste Versuch, einen Wasserstoffballon an einen Heißluftballon zu koppeln: Man hat die Wahl zwischen abstürzen und verbrennen oder verbrennen und abstürzen. Aber manchmal funktioniert es, und etwas Neues entsteht, und die Welt hat sich verändert. Dann wird irgendwann, früher oder später, aus dem einen oder anderen Grund, einer von beiden weggenommen. Und was weggenommen wurde, ist größer als die Summe dessen, was vorher da gewesen war. Mathematisch mag das nicht möglich sein, aber emotional ist es möglich.
Auf der letzten Seite gibt es ein Foto von Pat Kavanagh. Wir haben sie kennengelernt, oder genauer: die Erinnerung an sie.
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