Unzugestandene Neigungen und gute Lehrer
In „Ein Sohn aus gutem Hause”, seinem einzigen, kurz vor seinem Tod erschienenen Roman, erzählt der Seiner Zeit in Prag und später in Wien bekannte Journalist und Sachbuchautor Karl Tschuppik die seelische Entwicklung des höheren Wiener Beamtensohns Baron Max d ‘Adorno, dessen Pubertät mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endet.
Als ein Mitglied des österreich-ungarischen Hochadels während des Stelldicheins mit seiner Mutter stirbt, ist Max gerade 12. Zur Vertuschung des Skandals verlässt Maman die Familie. Die Kinder fragen sich umsonst, wo sie bleibt. Alles was an sie erinnert, lässt der Vater entfernen, ihr Name darf nie mehr erwähnt werden, damit der des Hauses d ‘Adorno ohne Tadel bleibe. Als Max auf abfällige Bemerkungen vom Schulkameraden reagiert, wird er ohne Erklärungen von der Schule genommen und vom Kindermädchen, für das er nun zu alt ist, nach Prag gebracht. Man steckt ihn in den Haushalt eines Verwandten, damit er das Gymnasium beende. Sein Onkel, ein pensionierter Militär, weiß nichts mit dem Buben anzufangen und ist froh über das Interesses eines älteren Schulkameraden, der sich des Buben annimmt, ihm die Stadt zeigt. Von diesem Freund in die Kreise um Oberst Redl eingeführt, verursacht Max selbst einen Skandal: Als Redl, Vize-Chef des österreich-ungarischen Nachrichtendienstes, als Spion auffliegt, untersucht die Polizei sein Umfeld. (Der Verfilmung der Redl-Affäre durch István Szábo, mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle, folgte 1988 die von „Ein Sohn aus gutem Hause” durch Karin Brandauer, untertitelt mit „Jugenddrama, verführt durch homophilen Mitschüler”.) Nachdem man ihn beim Oberst unter Drogen gesetzt hat, empfindet Max, „dass an ihm, in sein Inneres und an seinem Körper, ein Einbruch verübt worden sei.”
Von Onkel und Vater erlebt Max statt Anteilnahme Vorwürfe und statt Anhörung die Wegweisung in das strenge Kadetteninternat in Mährisch-Weißkirchen. Dort findet er im Schlafsaalnachbarn Minquiz einen Freund. Minquiz – möglicherweise nur ein sprechender Name für die zweite Seite von Max – ist lebenslustig und versiert im Umgang mit Mädchen wie Damen. Max verdient sich seinerseits erste Sporen mit dem anderen Geschlecht, wie der beunruhigte Vater mit stillschweigendem Wohlwollen zur Kenntnis nimmt: Erst sucht Max die burschikose Jugendfreundin in Prag, um Bibi als Nachtklubtänzerin in Wien wiederzufinden. Mit ihr erlebt der junge Baron zum ersten Mal Sex. Die bei den Wiener Männern sehr begehrte Bibi stellt Max seiner Schwester Lucy vor, mit der sie bald inniger als mit ihm selbst wird. – Und weil auch das zur virilen éducation sentimentale gehört, lässt Max sich auf ein intimes Verhältnis mit der Gattin eines höheren Offiziers, geachteter Lehrer an seiner Schule, ein. Der Autor beschreibt diese Dame als knabenhaft schlank, von fern wirke sie wie ein männlicher Reiter, heißt es ohne auktorialen Kommentar.
Weniger vage als die beiden Frauen stellt Tschuppik Max' Freund dar: Minquiz hat einen „ebenmäßig gewachsenen, gestählten Gliederbau, der nach Seeluft und Äpfeln roch.” Aufgewühlt nach den Stelldicheins mit der Geliebten pflegt Max nachts im kalten Schlafsaal zu Minquiz unter die Decke zu schlüpfen, der „fühlte, dass er seinen kleinen Freund, für den er mehr Zärtlichkeit empfand als für jede Frau, wieder ganz gewonnen hatte.” Die Passage ist umständlich und langatmig formuliert, der Erzähler unterscheidet nicht zwischen Kindlich- und Männlichkeit, Unschuld und Bewusstsein, sondern mutmaßt über seinen Protagonisten: „Er war vielleicht zu unerfahren, als dass er hätte wissen können, es gäbe Sympathien des Denkens, die vom Körper absehen.” Tschuppik meint seine Figur durch attestierte Naivität schützen zu müssen. Dabei hatten die Burschen längst haarige Beine und müssen ihre Affairen mit Offiziersgattinnen wohl als böse Streiche an ihren Lehrern begriffen haben, denen sie bei den Eskapaden Hörner aufsetzten – wenn auch unter dem scheinheiligen Mantel kameradschaftlicher Verschwiegenheit. Wir befinden uns im Kernland Sigmund Freuds. Verglichen mit all dem Mauscheln und Vertuschen, in der vielerseits aufgeladenen Atmosphäre verletzten Stolzes und unartikulierter Auflehnung gegen die, denen man Gehorsam zollt, stellte die Liebe unter Gleichgeschlechtlichen, Ingredienz jedes Kloster-, Seemanns- und Kasernenlebens, vermutlich das echtere Gefühl dar, obwohl gerade sie angesichts der herrschenden Scheinmoral strikter Verschwiegenheit oblag und als kriminelles Delikt galt. Im Zuge der Redl-Affaire wurden Zeugen vor Gericht befragt, ob sie von den homosexuellen Neigungen des Obersten gewusst hätten, wie angeblich jeder Kellner in Prag. Die aktenkundigen Antworten lauten sinngemäß: Mit Verlaub, als normaler Mann kann ich derlei nicht beurteilen.
Für den Autor Tschuppik, der in der Ersten Republik Chefredakteur der fortschrittlichen Wiener Boulevardpresse „Die Stunde” gewesen war, hätte Bisexualität 1937 kein Tabu sein müssen: 1906 bezeichnet Robert Musil homosexuelle Nötigung im Bubeninternat „Schweinereien”, Tschuppiks Freund Roth beschreibt 1924 im expressionistischen Fortsetzungsroman „Das Spinnennetz" den Ekel der Hauptfigur Lohse bei Intimitäten mit einem einflussreichen Gönner. 1929 thematisiert Alfred Döblin in „Berlin Alexanderplatz“ die Abhängigkeit zwischen Franz Biberkopf und seinem im Gefängnis schwul gewordenen Kumpel Reinhard. 1931 behandelt Leontine Sagan in ihrem erfolgreichen Film „Mädchen in Uniform” lesbische Liebe und Leidenschaft im Internat.
Tschuppiks uneingestandenes Outing kann in „Ein Sohn aus gutem Hause” als Un-Zugeständnis gesehen werden: Der Autor will seiner Romanfigur nicht erlauben, wozu er sich selbst nicht bekannt hätte und meint sie schützen zu müssen, als ginge es um ihn selbst.
Eher schablonenhaft zeigt der Roman die Stationen einer typischen Herrensohn-Jugend im alten Österreich, er ist eher eine Absolvenz- als eine Adoleszenzgeschichte, es wird kein Reifungsprozess in dem Kavallerieschüler sichtbar, der sich am Vorabend zum Ersten Weltkrieg, noch nicht ganz 18-jährig, freiwillig meldet. Mit dieser Entscheidung endet der Roman: die Erwachsenwerdung erfolgt von außen, der Weltkrieg gibt den Ritterschlag.
Schon aus der Konstellation wird klar, dass Familien- und Staatsgeschichte den Sohn beherrschen: Wie die Kindheit durch die Verbannung der Mutter gekappt wird, beendet die Staatspolitik die Pubertät. Das „gute Haus” aus dem Titel ist demnach das Zuchthaus, in dem die Generation des Autors aufgewachsen ist. Statt Erziehung herrscht Drill, statt Auseinandersetzung mit den herrschenden Zuständen und Gepflogenheiten ihre sture Beibehaltung. An einer Stelle beschreibt Tschuppik eine Garnisonsstadt:
„Die Festungen Österreichs sind einander ähnlich, wie die Söhne eines Hauses. Das Haus Habsburg drückte diesen Geschöpfen seiner Herrschaft und Verteidigung eigene Wesenszüge auf.”
Dieser Ton erinnert an Joseph Roth. Mit ihm war Tschuppik gut befreundet, die beiden teilten angesichts der Entwicklungen in der Ersten Republik ihre Sehnsucht nach dem untergegangenen Habsburgerreich. Der selben Generation gehörten auch Ödön von Horvath, Robert Musil und Hermann Broch an: Autoren, ebenfalls in der kriselnden Belle Epoque aufgewachsen und hellhörig geworden, die im mittleren Alter zusehen mussten, wie ihre pessimistischsten Befürchtungen in Faschismus und Stalinismus wirklich wurden.
„Ein Sohn aus gutem Hause” ist die weniger anspruchsvolle Lektüre, doch bietet Vergleichsmöglichkeiten mit den literarisch überzeugenderen Werken der Epoche, allen voran Joseph Roths „Radetzkymarsch”, der mehrere Generationen der Familie Trotta in ihren Einsamkeiten zeigt. Tschuppiks Kurzroman führt nur eine Person aus – wie Robert Musil in den „Verwirrungen des Zöglings Törless” lang davor (1906).
Da wie dort herrscht Unverständnis zwischen kaisertreuen Vätern und im Industriezeitalter aufgewachsenen Söhnen, denen man das Überkommene befahl und Neues mit Verachtung strafte. An einer Stelle im „Sohn aus gutem Hause” gibt Tschuppik die Unterhaltung von Max' Vater mit seiner Kartenspielrunde wieder, worin sich die Herren über die neumodische Erfindung einer Armbanduhr mokieren. Das erste Geschenk, das Max von seiner Schwester als Zeichen der Verbundenheit erhält, ist dann eine solche Armbanduhr.
Als künftiger „Mann ohne Eigenschaften” in einer Nussdorfer Villa wie aus einem Schnitzler-Stück aufgewachsen, wird Max an ein Prager Gymnasium abgeschoben, wie wir es aus Werfels „Abituriententag” (1928) kennen. In weiterer Folge überantwortet ihn der Vater zur Erziehung der k.u.k. Kavallerie. Er schickt ihn in die Militärschulstadt Mährisch-Weißkirchen, wo auch der Prager René Rilke und der Klagenfurter Robert Musil das Kriegshandwerk studierten. Letztere haben die Literatur um selbsterfahrene Zöglingsromane bereichert, bei denen die Anstalt vergleichsweise nicht gut weggekommen ist. In „Die Turnstunde” endet der Drill für eine empfindliche Seele tödlich, im „Törless” quälen einige Schüler einen erpressten Kommilitonen mit sadistischen Grausamkeiten. Nicht nur, dass Pädagogen und Erzieher davon nichts wissen (wollen); auch ein Lernwilliger wie Törless wird von den Lehrern seines Vertrauens mit hilflosen Phrasen abgespeist. Antwort und Verantwortung fehlen, wie überhaupt eine echte Beziehung zwischen den Generationen. Gehorsam und das Einhalten der Regeln gemäß dem Rang, der jemandem zusteht, ist das Einzige, das die Gesellschaftspyramide zusammenhält.
Im Unterschied zu diesen kritischen Stimmen kommt die Institution Schule im „Sohn aus gutem Hause” besser weg. Einige von Max' Lehrern, sowohl am Döblinger (Piaristen-)Gymnasium als auch in Mährisch-Weißkirchen, werden namentlich genannt. Einen Rittmeister Gallasch zitiert Tschuppik mehrfach und ausführlich.
Im Unterschied zu den Erwachsenen aus Max' Verwandtschaft, die zu Fragen betreffend der Entscheidungen des Kaiserhauses lieber keine Meinung, sondern Ausflüchte haben, ist Gallasch einer der wenigen couragierten Pädagogen, die sich um die jungen Leute bemühen. Der Lehrbeauftragte für Militärgeschichte unternimmt mit seinen Schülern einen mehrtägigen Ausritt an die Schauplätze der Niederlage von Königgrätz.
Den Einzug in die Festungsmauern der Stadt erlebt Max wie einen bösen Traum, der an die fantastischen Visionen der Helden bei Alexander Lernet-Holenia erinnert („Der Baron Bagge", „Die Standarte“, „Mars im Widder“): die Kadetten treffen mit einer Gruppe hier Inhaftierter zusammen, die die verschmutzten weißen Uniformen der 1866 unterlegenen österreichischen Infanterie tragen müssen, welche der Kaiser nach der Schlacht nicht mehr sehen wollte.
Tatsächlich war die Niederlage beim Dorf Sadowa ein österreichisches Trauma. Um „die schwerste Demütigung Habsburgs, die Verjagung aus Deutschland, aus dem Bewusstsein der lebenden Generation zu löschen” hatte der Kaiser dem Oberbefehlshaber von Benedek einen Eid, über die Umstände der Niederlage Stillschweigen zu bewahren, auferlegt und alle Pläne in den Archiven verborgen. Die Kriegsteilnehmer und späteren Autoren Lernet-Holenia und Doderer wurden in der Ersten Republik Historiker, Tschuppik verfasste geschichtliche Sachbücher. Vorbild mögen gute Lehrer wie dieser Gallasch gewesen sein, der den Offiziersschülern die Schlacht erklärt und sie voller Leidenschaft aufgefordert hatte: „Lernt aus diesem Unglück! Der Säbel allein macht nicht den Soldaten, seine beste Waffe ist das Gehirn!”
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