Als Journalisten noch erster Klasse flogen
Die Memoirenbücher der Gestalter und Beobachter der Kulturgeschichte der jungen Bundesrepublik, geboren meist in den 20ern und frühen 30ern des vorangegangenen Jahrhunderts, dürften mittlerweile etliche Regalmeter füllen. Nach Marcel Reich-Ranicki (Jahrgang 1920), Joachim Fest (1926), Fritz J. Raddatz (1931), Wolf Jobst Siedler (1926) und Günter Grass (1927), um nur ein paar zu nennen, hat nun der Journalist, ZDF-Korrespondent und Buchautor Klaus Harrprecht seine Erinnerungen vorgelegt. „Schräges Licht“ ist keine umfassende Lebensgeschichte, sondern ein Bericht der beruflichen und – wenngleich deutlich knapper – privaten Lebensstationen, die Harpprecht in der Rückschau erzählenswert erscheinen.
Dabei offenbart sich eine Welt, die aus ganz unterschiedlichen Gründen unwiederbringlich vorüber ist. Eine Welt, in der das gedruckte Wort noch von einem Millionenpublikum aufgesogen wurde; in der Reportagen, sei es für die ZEIT oder das FAZ-Magazin, mehrere Seiten umfassten und Journalisten zu Recherchezwecken erster Klasse um die Welt jetteten (während sie heute bei Online-Medien für einen Bruchteil des Gehalts zwei bis drei Texte am Tag abliefern müssen, freilich nach dem Baukasten-Prinzip); und in der das ZDF seine USA-Berichte noch per Filmrolle über Nacht mit der Lufthansa nach Frankfurt schickte. Harpprecht ist als Journalist ein Kind dieser Zeit, ein Vertreter der Bonner Republik, der den Umzug der Regierung nach Berlin 1995 mit Hinweis auf die jüngste deutsche Geschichte als zu pompös und großmannssüchtig ablehnte.
Schule des Lebens waren für Harpprecht, wie für die meisten seiner Zeitgenossen, die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre. Den kurzen Dienst an der Waffe – beim Ersatzbataillon eines Artillerie-Regiments in Neu-Ulm und nicht bei der Waffen-SS, wie er mit Blick auf den gleichaltrigen Grass betont – überstand er mit einigem Glück und einem Schulterstreifschuss weitgehend unbeschadet. Was folgte, war der für junge Intellektuelle nach 1945 typische Dreiklang aus Schwarzhandel, Liebe und Schreiben. Der Schwarzhandel sicherte das Überleben, und natürlich entwickelte jeder ein ganz besonderes Geschick darin. Die Liebe war nach den Jahren des Krieges sowie in einer Zeit der Jugend und materiellen Entbehrung ein naheliegendes Vergnügen. Und zum Schreiben fand man in der Regel über die Lektüre, wobei die Beschaffung von (guten) Büchern nach dem Krieg keine Selbstverständlichkeit war. Harrprecht wurde im Kloster Blaubeuren fündig, wo er sein Abitur nachholte. Dort stieß er auf eine Gesamtausgabe der „Neuen Rundschau“, und damit auf Ibsen und Strindberg, Zola, Balzac und Maupassant, Dostojewski und Tolstoi – und nicht zuletzt auf seine literarischen Helden, Schnitzler und Musil (obwohl zu Harpprechts Lebensleistung das Verfassen einer ausgezeichneten Thomas-Mann-Biographie zählt, waren ihm die Bescheidenheit und das Zweifeln Schnitzlers stets näher als die Selbstgewissheit Manns). Ein Zufall, dass Harpprecht wenige Jahre später für kurze Zeit ausgerechnet die Leitung des Verlages (S. Fischer) übernehmen sollte, dessen Zeitschrift ihn mit der Literatur der klassischen Moderne unauflöslich zusammengebracht hatte.
Der Karriereweg des Journalisten Harpprecht verlief, wie bei den meisten seiner Altersgenossen, die nicht ganz auf den Kopf gefallen waren, recht geradlinig. Harpprecht ist ehrlich genug – wie vor ihm bereits Sebastian Haffner –, sich über die Rahmenbedingungen des frühen Erfolges keine Illusionen zu machen. Er profitierte davon, dass Millionen junger Männer im Krieg geblieben bzw. von den Nazis ermordet oder zur Flucht gezwungen worden waren. Außerdem war er zu spät geboren, um sich während der Jahre der Nazi-Herrschaft ernsthaft zu kompromittieren. So war er möglich, bereits in jungen Jahren – auch ohne Studienabschluss – an wichtige Schaltstellen des bundesrepublikanischen Kultur- und Politikbetriebes zu gelangen. Mit Mitte 20 avancierte der Protestant Harpprecht zum Hauptstadtkorrespondenten der damals noch auflagenstarken Wochenzeitung „Christ und Welt“, mit Mitte 30 wurde er Amerikakorrespondent des ZDF in Washington, bevor er, noch keine 40, das Ruder beim S. Fischer-Verlag übernahm.
Die beruflich prägendsten Jahre standen da allerdings noch bevor. Von 1972 bis 1974 arbeitet Harpprecht als Redenschreiber von Willy Brandt, dem er sich auch menschlich verbunden fühlte. Obwohl außenpolitisch Transatlantiker und Befürworter der Westintegration Adenauers, unterstützte er die von Brandt betriebene außenpolitische Öffnung nach Osten, die unter dem Stichwort „Wandel durch Annäherung“ in die Geschichtsbücher einging. Glücklicherweise widersteht Harpprecht der Versuchung, seinen eigenen Anteil an den politischen Geschicken der Bundesrepublik allzu hoch einzustufen. Stattdessen sieht er sich – vermutlich realistisch – als gelegentlicher politischer Sparringpartner von Brandt, der ihn von Zeit zu Zeit nach seiner Meinung befragte. Wer bei Harpprecht auf detaillierte Einblicke ins Innere des Machtapparates hofft, wird enttäuscht. Herbert Wehner war dem pragmatischen Schwaben zu ideologisch; Helmut Schmidt erlebte er als illoyal, karrieristisch und obendrein intellektuell überbewertet (während Schmidt Harpprecht als „Höfling“ Brandts abkanzelte).
Zu den lesenswertesten Kapiteln des Buches gehören diejenigen, die von der Beziehung zu Renate Lasker berichten, seit 1960 Harpprechts Frau. Kennengerlernt haben sich die beiden in den 1950er Jahren beim deutschsprachigen Dienst der BBC in London. Das Wiedersehen fand kurze Zeit später in Werner Höfers „Internationalen Frühschoppen“ statt, ein Vorläufer des ARD-Presseclubs, wenngleich mit deutlich höherer Wahrnehmung als heute.
Dass Lasker den Weg nach Köln und zu Höfer auf sich nahm, war alles andere als selbstverständlich. Ihre Eltern waren von den Nazis deportiert und ermordet worden; Höfer hingegen hatte während der NS-Zeit in verschiedenen Nazi-Publikationen veröffentlicht und war obendrein Pressereferent von Albert Speer im Rüstungsministerium gewesen. Eine mehr oder minder höfliche Absage wäre nachvollziehbar gewesen. Doch sie kehrte nach Deutschland zurück, blieb, und wurde zu einer der engagiertesten und berührendsten Chronistin der nationalsozialistischen Verbrechen. Der ZEIT gab sie vor kurzem anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, in dem Lasker zusammen mit ihrer Schwester Anita bis Kriegsende eingesessen hatte, ein bewegendes Interview, das über den Tag hinaus im Gedächtnis bleibt. Harpprecht geht auf die Kriegserfahrungen seiner Frau und deren Familien nur kurz ein, wohlwissend, hier aus zweiter Hand zu berichten; doch wird klar, wie grundlegend ihn das Wissen davon in seinem weiteren Leben geprägt hat. Als ihm Jahrzehnte später am anderen Ende der Welt ein unverbesserlicher Nazi begegnet, kommt es beinahe zu einer Schlägerei. Nach 20 oder 30 Jahren Ehe vertraut ihm seine Frau an, sie glaube nun, dass er „mit ihr gekommen wäre, damals“; für Harpprecht ein rührender Vertrauensbeweis, und zugleich Anlass zur Beunruhigung: „Kann man für sich selbst die Hand ins Feuer legen?“ Vermutlich weiß er: Man kann es nicht.
Klaus Harpprecht hat mit „Schräges Licht“ ein lesenswertes Buch geschrieben, das die unterschiedlichen Facetten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts – die positiven wie die schrecklichen gleichermaßen – aus einem persönlichen Blickwinkel eindrucksvoll ausleuchtet. Und er hat dies auf eine sympathische und unprätentiöse Weise getan, ohne in die für Memoirenschreiber verführerische Eitelkeitsfalle zu treten, welche dazu verleitet, das eigene Wirken maßlos zu überschätzen. Das lässt sich nicht von allen seinen schreibenden Altersgenossen behaupten, weswegen sich „Schräges Licht“ positiv aus der Flut der Erinnerungsbücher der um das Jahr 1930 herum Geborenen abhebt.
Eine leichte geänderte Version des Textes ist in der Zeitschrift „Berliner Republik“ (2/2015) erschienen.
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