Realitätswertung
Tolstoi ist sicherlich einer der größten Schriftsteller aller Zeiten. Seine Rolle beim Übergang der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts ins 20. ist bedeutend und jenes Übergangsszenario in immer breiter aufgefächerte Erzählmethoden könnte gewissermaßen in ihm kulminieren, denn Tolstoi schrieb bis zum Schluss felsenartig selbständige Prosa, die sich beharrlich ihrer selbst versicherte und abgrenzte von jeglichen anderen, aufbrechenden "Bewegungen". Das gilt nicht nur innerhalb des seit langem gewaltigen und epochalen russischen Erzählraums, der mit Dostojewski und Turgenjew, Gontscharow, Tschechow und in Teilen Gogol auf seine Weise einzigartige Literaten hervorgebracht hat, die jeweils derart einflussreiche Bücher und Figuren geschaffen haben, dass sie sämtlich in eine geradezu sprichwörtliche Individual-Sphäre rückten, sondern Tolstois Rang gilt vielmehr weltliteraturgeschichtlich gesehen. Tolstoi ist mit seinem Werk, wie auch seine genannten Vorgänger und Schriftstellerkollegen (Gogol nicht immer) dem Realismus verpflichtet. Eine fast manische Getriebenheit, die Dinge, die Verhältnisse so zu zeigen, wie sie sind (empfunden) oder moralisch gewertet werden. Im selben Moment nichts "Künstlerisches" hinzuzufügen, sondern explizit durch diszipliniertes Erzählen, Auswählen, Abwägen und letztlich rationalem Komponieren etwas aus dem Leben zu schälen, das Leben literarisch zu parallelisieren, um auf diese Weise fast reportageartig der Leserschaft Zugang zu Lebensmodellen und -entwürfen zu bieten, die ihnen in ihrem eigenen, privaten Leben möglicherweise verwehrt bleiben. Dabei stehen häufig gesellschaftskritische Themen auf dem Programm, und es ist nur folgerichtig dafür, wenn es darum geht, ein gesellschaftssezierendes Panorama abzubilden, so viele Figuren/ Modelle wie möglich abzubilden. Balzac tat dasselbe, nannte es Menschliche Komödie und schrieb Seite um Seite gegen die Gläubiger und für den Kaffee, desgleichen Dickens auf der anderen Seite des Ärmelkanals und so fort.
Tolstoi schrieb Krieg und Frieden über Geschehnisse, die seinerzeit über fünfzig Jahre zurücklagen, deren Spuren jedoch in seine Zeit ragten und tendenziell universal gültige Abrücke/ Achsen aufwiesen. Er lieferte Anna Karenina, er schrieb einen großen Konvolut an detailsicheren Erzählungen und Novellen aus allen Provinzen Russlands, und er schrieb dann lange Zeit gar nichts und engagierte sich vielmehr im tatsächlichen Leben, indem er seinen Ruhm einsetzte, um politisch tätig zu werden und Missstände realiter anzuprangern. Schließlich kam Tolstoi mit dem Roman Auferstehung zu einem späten, letzten Werkhöhepunkt. Insgesamt arbeitete er über zehn Jahre an der Geschichte um Nechljudow, den zweifelnden Adligen und geläuterten Verführer, und der Maslowa, einer jungen unglücklich verurteilten Prostituierten. Mit dem Erlös des Romans wollte Tolstoi die Auswanderung einer politisch verfolgten religiösen Splittergruppe, die Duchoborzen, nach Kanada unterstützen. Tolstoi selbst stand deren freigeistiger, pazifistischer und moralischer Auslegung eines gottesfürchtigen, jedoch anti-orthodoxen Christentums nahe – so wie auch viele seiner Figuren in Auferstehung zu denken und handeln scheinen. Der Roman, der erst 1936 unzensiert in Gänze in Russland publiziert werden konnte, ist diesen Herbst bei Hanser in einer Neuübersetzung der vielfach ausgezeichneten Barbara Conrad erschienen, nachdem er zuvor in insgesamt neun verschiedenen Übersetzungen auf Deutsch übertragen worden ist. Er ist über sechs Mal verfilmt worden, als früher Stummfilm und als US-Kino-Adaption von Rouben Mamoulian sowie im TV-Format von den Taviani-Brüdern, als auch in einer chinesischen Fassung von 1949. Das Interessante an Auferstehung ist eigentlich nicht unbedingt sein Inhalt. Man kann Tolstois Absichten nichts entgegensetzen: sie sind aufrichtig, ernsthaft, besorgt, und der Zustand der Gesellschaft ist in der Tat derart horribel, dass man gar nicht anders kann, als gegen ihn vorzugehen. Seine soziale Ungerechtigkeit, die riesige Schere bei Reichtum und Bildung, das völlig unzureichende Rechtssystem und, eben Tolstois Kernanklage, die moralische Verwerflichkeit der Menschen. Es ist so ehrhaft und fast atlantisch, das Gewicht der Welt inhaltlich schultern zu wollen, aber es ist vom künstlerischen Standpunkt zugleich absolut fragwürdig, ob hieraus große Kunst entstehen kann, denn nur zu oft sind moralische "Rührstücke", die sich als Lehrparabeln gerieren, mit einem kurzen Atem ausgestattet. Sie haben ihren Skandal, ihre Zeit und sind dann wieder vergessen. Weil sie dazu tendieren, holzschnittartig und konstruiert, ihr politisches Anliegen im Gewand einer überraschungsarmen, unoriginellen Geschichte zu servieren. So ist in Conrads Übersetzung von Auferstehung dem Leser auch schnell klar, dass es hier um anderes geht, als die Läuterungsgeschichte eines unsympathischen Adligen zu verfolgen, der als reicher Taugenichts zum Handlungsträger und Schichten-Inspektor wird und dabei alle möglichen Menschen und ihre Geschichte antrifft, während er die pragmatische, geschlagene und eigenwillige Maslowa begleitet auf ihrem Weg zwischen Gerichtssaal und Arbeitslager. Die Angelegenheit ist extrem langsam erzählt, eben weil es um die semi-dokumentarische Vermittlung von Menschenbildern geht, und sie tritt früh in den Hintergrund zugunsten des diagnostischen Zeit-Dioramas. Ganz anders als beispielsweise bei Krieg und Frieden und Anna Karenina, die inhaltlich zu fesseln vermögen von den ersten bis zu den letzten Seiten.
Aber warum es stark ist, Auferstehung erneut und neu übersetzt aufzulegen, sollen einige kurze Schnipsel aus dem Werk belegen. Denn Tolstois Sprache ist bei all ihrer wertenden Gewichtung, ihrer fast Karl Kraus-artigen Gerechtigkeitsfanatik, absolut fehlerlos. Die Sätze sind reduziert auf das Wesentliche, ihre Abfolge ist schnell und die Continuity rasch geschnitten. Nichts ist unnötig und die Bilder treffen sämtlich ins Schwarze, sind sparsam eingesetzt und wie vielleicht mit Rodin (als anderer Übergangskünstler der Jahrhunderte) zu vergleichen: gewaltig, pathetisch und schonungslos offen. Tolstoi schreitet voran wie ein General in der Schlacht in vorderster Reihe, als strickgegürteter Eremit mit Rauschebart, mutig und sichtbar, und dabei getrieben wie Ahab, nur vom Wunsch, den ganzen Schlamassel in die trägen Sinne derer zu pusten, die da sitzen und lesen. Tolstoi entscheidet über alles und jeden, bricht den Stab mit drei Worten über jeden Kopf und zeigt mit dem Finger, ob erhoben oder nicht spielt keine Rolle, auf Kot und Krone. Zu Gute kommt dieser subjektiven Dokumentation Tolstois feiner Sinn für karikierend-dienlichen Humor, der genau in so kurzen Schnipseln wie den folgenden, deutlich macht, dass auch "Moralapostel" mit allen Wassern der Erzählkunst gewaschene Handwerker sein können, die Meisterkapitel am Band produzieren können. Auferstehung in Conrads behutsamer Übertragung sei in jedem Fall empfohlen.
"Die Werberin bereitete einen Imbiss [...] und der Maslowa schlug sie vor, in ein gutes Etablissement, das beste in der Stadt, einzutreten und malte ihr alle Vorteile und Privilegien dieser Stellung aus. Die Maslowa stand vor der Wahl: Entweder die erniedrigende Position eines Dienstmädchens, bei der es mit Sicherheit Nachstellungen von Seiten der Männer und zeitweilig heimliche Ehebrüche geben würde, oder aber eine gesicherte, ruhige, legitimierte Position mit offenem, vom Gesetz zugelassenen und gutbezahlten ständigen Ehebrechen, und sie wählte Letzteres."
"Bald nach den Geschworenen trat mit seinem schiefen Gang der Gerichtsbeamte heraus in die Mitte des Saals und rief mit Donnerstimme, als wolle er die Anwesenden erschrecken:
"Das Hohe Gericht!"
Alle erhoben sich [...] dann der finstere Beisitzer mit der goldenen Brille, der jetzt noch finsterer war, weil er unmittelbar vor der Verhandlung seinen Schwager getroffen hatte, einen Kandidaten des Gerichts, der ihm mitgeteilt hatte, er sei bei seiner Schwester gewesen, und die habe ihm erklärt, es werde kein Diner geben.
"Sodass wir wohl in die Kneipe gehen müssen", hatte der Schwager lachend gesagt.
"Das ist überhaupt nicht komisch"; antwortete der finstere Beisitzer und wurde noch finsterer.
Und schließlich der dritte Beisitzer [...] der sich immer verspätete; das war ein bärtiger Mann mit großen gutmütigen, schlaffen Augen. Dieser Beisitzer litt an Magenkatarrh und hatte auf Anraten seines Arztes mit dem heutigen Morgen eine neue Kur begonnen [...] Als er jetzt auf das Podest stieg, wirkte er äußerst konzentriert, weil er nämlich die Angewohnheit hatte, mit allen möglichen Mitteln Vorzeichen zu ersinnen auf Fragen, die er sich stellte. Diesmal hatte er sich ausgedacht, wenn sich die Zahl seiner Schritte von der Tür seines Arbeitsplatzes bis zu seinem Stuhl restlos durch drei teilen ließe, dann würde ihn die neue Kur von dem Katarrh heilen, ließe sie sich nicht teilen, dann eben nicht. Es waren sechsundzwanzig Schritte, doch er machte noch ein winziges Schrittchen und kam genau mit dem siebenundzwanzigsten zu seinem Sitz."
"Außerdem saß auf der Pritsche noch eine kleine, ganz runzlige gutmütige Alte mit grauen Haaren und einem krummen Buckel. Diese Alte saß neben dem Ofen auf der Pritsche und tat so, als wolle sie den vierjährigen, kurzgeschorenen, an ihr vorbeilaufenden dickbauchigen und sich vor Gelächter ausschüttenden Jungen fangen. Der Bub lief im bloßen Hemd an ihr vorbei und sagte immer ein und dasselbe: "Ätsch, nicht gefangen!" Diese Alte, die gemeinsam mit ihrem Sohn der Brandstiftung beschuldigt wurde, ertrug ihre Inhaftierung mit größter Gutmütigkeit und grämte sich nur um ihren Sohn, der zur gleichen Zeit wie sie im Gefängnis saß, am meisten aber um ihren Alten, der, wie sie fürchtete, ohne sie vollkommen verlausen würde, denn auch die Schwiegertochter war weggelaufen, und keiner war mehr da, um ihn zu waschen."
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