Der Weg nach Sarajewo
Ludwig Winders 1937 erschienener Roman „Der Thronfolger“, der nun vom Zsolnay Verlag in einer Neuauflage vorliegt, wurde von der Kritik mitunter in eine Reihe mit Joseph Roths „Radetzkymarsch“ gestellt. Tatsächlich muss das Buch den großen Vergleich nicht scheuen. Gleichwohl könnte man auch Robert Musils Lebensroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als Referenzpunkt heranziehen. Denn sowohl bei Winder wie auch bei Musil ist dem Leser von Anfang an klar, wohin die Reise geht. Während Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, im Sommer 1913 an den Vorbereitungen zur sogenannten Parallelaktion mitwirkt, den für 1918 geplanten Feierlichkeiten zum siebzigjährigen Thronjubiläum des österreichisch-ungarischen Kaisers Franz Joseph, brütet Franz Ferdinand, der Neffe und Thronerbe des Kaisers, über Plänen, wie sich das marode Habsburgerreich modernisieren ließe. Dabei steht fest, dass weder das eine noch das andere Ereignisse je eintreffen wird. Franz Ferdinand fällt am 28. Juni 1914 in Sarajewo mitsamt seiner Gattin Sophie einem Attentat zum Opfer; der anschließende Erste Weltkrieg bringt das Ende der k.u.k. Monarchie.
Winders Erzählung des Lebens Franz Ferdinands setzt jedoch deutlich früher ein. Genau gesagt im Jahr 1855, lange vor dessen Geburt, mit einem Porträt der Mutter, der damals zwölfjährigen Prinzessin Maria Annunziata, der Tochter von König Ferdinand II. von Sizilien, dessen Herrschaft – trotz massiver Gewaltanwendung gegen die eigene Bevölkerung – dem Druck der italienischen Einigungsbewegung nicht standhielt. Den Verlust an Macht und Ansehen hat die Mutter zeitlebens nicht verkraftet. Sie heiratet den Bruder des österreichischen Kaisers und bringt, trotz schwerer Lungentuberkulose, vier Kinder zur Welt, in der Hoffnung, dadurch an die Spitze der Habsburgermonarchie zu gelangen. Das gelingt, als sich der Sohn des Kaisers das Leben nimmt und Franz Ferdinand zum Thronfolger aufrückt. Maria Annunziata jedoch erlebte den Triumph nicht mehr; sie war 1871, gerade einmal achtundzwanzigjährig, gestorben.
Auch Franz Ferdinand laborierte lange Jahre mit einer schwachen Konstitution, was dazu führte, dass ihm kaum jemand zutraute, je an die Spitze des Reiches zu gelangen. Die zahlreichen Zurückweisungen und Herabsetzungen, die er in dieser Zeit erfuhr, sollten ihn ein Leben lang prägen – zumal auch der Kaiser selbst keine allzu großen Stücke auf ihn hielt. Erst spät sucht Franz Ferdinand eine aktive politische Rolle. Er träumt von einer Reform des Vielvölkerreiches nach dem Vorbild der USA und griff – das hohe Alter sowie die phasenweise Passivität des Kaisers begünstigen dies – verstärkt in die administrativen und militärischen Belange der Donaumonarchie ein. Vor allem bei den Ungarn im Reich, aber auch bei den slawischen Völkerschaften, macht er sich damit zahlreiche Feinde. Trotz etlicher Warnungen, die den offiziellen österreichischen Stellen 1914 frühzeitig vorlagen, wurde die Reise in die bosnische Hauptstadt Sarajewo jedoch nicht verhindert. Der Rest ist Geschichte, die man derzeit in zahlreichen neuen Publikationen – am lesenswertesten ist die Studie von Jörn Leonhard, „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges“ (C.H. Beck Verlag) – sowie tagtäglich in den Feuilletons nachlesen kann.
Die Erstausgabe von Winders Roman erschien in der Schweiz, seine Verbreitung wurde kurz darauf sowohl in Österreich wie auch in Deutschland unterbunden. In der deutschsprachigen Exilpresse hingegen wurde das Werk positiv aufgenommen. Dennoch dauerte es mehr als vier Jahrzehnte, bis sich 1984 ein Verlag in der DDR fand, der das Buch in sein Programm aufnahm. Am Lesepublik in Deutschland und Österreich ist der „Thronfolger“ somit bislang weitgehend vorbeigegangen, wie Ulrich Weinzierl in seinem informativen Nachwort betont. Winder selbst, Theaterkritiker und langjähriger Feuilletonredakteur der Prager Zeitung „Bohemia“, war zu diesem Zeitpunkt schon lange tot; er starb 1946 in Großbritannien, wohin ihm im Sommer 1939 die Flucht gelungen war. Eine seiner Töchter sowie zwei Halbbrüder hatten nicht so viel Glück; sie fielen dem Holocaust zum Opfer.
„Der Thronfolger“ ist das herausragende Beispiel eines gelungenen historischen Romans. Dass dieses Werk so lange lediglich einem kleinen Kreis von Experten bekannt war, ist schier nicht zu glauben. Umso erfreulicher ist es, dass es nun endlich die Rezeption erhält, die es verdient.
Historiker mögen darüber streiten, wie akkurat die historische Figur Franz Ferdinand getroffen ist. Winder skizziert einen menschenverachtenden und herrischen Zeitgenössen, einen pathologischen Jäger, der in seinem Leben rund 600.000 Tiere schoss und dem das Töten ganz offenkundig Freude bereitete, einen – zumindest in seinen späten Jahren – herrschsüchtigen Thronfolger, der ungeduldig auf seine Gelegenheit wartete und danach trachtete, die Völker der Habsburgermonarchie mit harter Hand zusammenzuhalten. Gleichwohl schimmert dahinter aber immer auch ein anderer Charakterzug Franz Ferdinands hervor, nämlich der des treusorgenden Ehemanns und Vaters, der, trotz der damit verbundenen Risiken für seine Ambitionen und gegen massive Widerstände in den höchsten Kreisen, eine als nicht standesgemäß empfundene Ehe mit der böhmischen Adeligen Sophie Chotek einging, aus der vier Kinder hervorgingen. Wie groß der Widerwille gegen diese Verbindung war, lässt sich auch daran erkennen, dass den beiden selbst nach ihrem gewaltsamen Tod in Sarajewo ein Staatsbegräbnis in Wien verweigert wurde.
Ludwig Winders Roman liefert einen exzellenten Eindruck der schwierigen und komplexen Persönlichkeit Franz Ferdinands, dessen Ermordung vor genau 100 Jahren einen Prozess in Gang setzte, dessen Ende keiner der Zeitgenossen des Jahres 1914 absehen konnte. Wer sich nach der Lektüre für ein umfassend wissenschaftliches Porträt des letzten österreichischen Thronerben interessiert, sollte zu der 2013 im Amalthea Verlag erschienenen Franz-Ferdinand-Biografie der Bonner Historikerin Alma Hannig greifen.
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