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Kritik

Momente sind auch Landschaften und haben eine Farbe

Es sind zunächst tatsächliche Landschaften und darin Orte, die ein eigenes Klima haben. In den Gedächtnisformaten finden sich Panoramen wie auch präzise Nahaufnahmen. Es sind Jahreszeiten, die in und mit den Gedichten zerfließen. Das Außen ist also ganz bestimmt da, obwohl das Geschehen, später, vom Innen diktiert wird. Es will aber gekoppelt sein, verortbar „im chaostaumel der teilchen, was könnte haus sein / wohnstube eigenschaft dieses langen gesichts.“ Auch das Licht ist ein Attraktor und immer wieder der Blick auch in den Himmel, nach oben, sogar Gott kommt ins Spiel. Es gibt hier Rechnungen, die noch nicht aufgehen und die aus großformatigem Wandkitsch herüberglotzen. Sind wir denn tatsächlich mehr als nur „kurzatmiger lehm“. Ist das nicht alles ein bisschen überhöht, dieses Theater um den Menschen, der sich die Tage zurechthäkelt und seinen Bruder umbringt („Kain“) und dann kommt noch Gott und tritt auf. Theater.

Viele solche Fragen versteckt Marcus Roloff oder reißt sie in größter Knappheit auf, indem er Bilder entsprechend zusammenführt, Begriffe vereint, die beieinander stehen wie Fragen. Und sehr weit geht er im Aufdecken der menschlichen Selbstüberschätzung. Hier gelingen ihm phantastische Vergleiche: „selbst die handschrift ist // ein zitat unzulänglicher phasen- / prüfer vergangener stromwechsel.“ Unsere menschliche Identität ist nur eine mögliche Erscheinung im Strom der Zeit, den Roloff elektrisierend ernst nimmt. Er hat in diesem Band, es ist sein zweiter innerhalb von gut zehn Jahren, Gedichte vorgelegt, die spürbar viele sehr genaue Prüfungen überstanden haben. Er geht mit seinem Material in eine intensive Zwiesprache und lässt nicht vieles zu. Er scheint genaue Grenzen zu kennen, an die er sein Gedicht führen will und verzichtet dabei auf viel Bekanntes – was es dem Leser nicht leicht macht, er muß mitarbeiten, wird nicht mitgerissen, sondern muß zu Fuß hinterher. Aber auf einem guten Weg – nichts das wuchert und beschlingt, in den Tritt kriecht und uns in die Irre schickt. Wer die Einladung annimmt, kommt an.

Roloff hat auch eine Liebe für Innehalten und den Moment.

Es geht im Leben nicht immer nur um äußerlich erkennbare, große tragische Momente – oft sind es scheinbar unbedeutende Augenblicke, die uns unvorbereitet so erwischen, daß wir in ihnen des ganzen Welttheaters und seiner Aufführungen gewahr werden. Und dann erschrecken wir, wo wir da hineingeraten sind, begreifen, was um uns herum eigentlich passiert, verlieben uns in Sekundenbruchteilen oder beginnen bodenlos zu hassen. Die plötzliche Gültigkeit eines für andere kaum sichtbaren Moments kann einen ganzen Lebensentwurf begründen, ändern, erschüttern. Und natürlich: man kann ihn auch einfach anschauen. Man kann die Farben des Augenblicks aufnehmen, viele Beimischungen, die zu seiner Farbe führten, bleiben uns aber oft verborgen – sehr komplex sind die Hintergrundswelten, so verschieden ist Geschichte, zu weitläufig verliert sich Innenleben. Das alles knistert in den Auren. Aber man kann die Farben anschauen und ihrer Erscheinung trauen. Man kann das Grinsen eines Menschen aufnehmen und es für gültig erklären - erkennen ob es ein Versteck ist oder eine Attacke, wie und warum es angerührt und auf das Gesicht gezaubert wurde, kann man meistens nicht. Und genau das bewirkt ein Spannungsfeld aus Geheimnis, Ahnung und Gewißheit. In den intimeren Gedichten von Marcus Roloff geht es um die Farben des Moments, unscheinbare Augenblicke, ein aufgesetztes, gescheiteltes Lächeln beispielsweise, oder der Blick an dem Tag nach dem One-Night-Stand.
Auch hier lässt er sich viel Zeit und Raum den Moment zu entwickeln, seine Farben herauszuarbeiten, nicht indem er ausschweift, sondern auch hier verknappt, Elemente gegeneinanderstellt und die in den Blicken verborgenen Sätze in die Luft schmeißt - DASS BRENNEN MÖGE DIE LUFT! Hier gibt es ganz intensive Augenblicke, die man anfangs nicht in diesem Gedichtband vermutet. Der erste Blick, der sich Landschaften findet, trügt. Die Gedächtnisformate sind in jeder Hinsicht hart und konsequent erarbeitete Lyrik vom Feinsten.

Marcus Roloff
Gedächtnisformate
Gutleut
2006 · 72 Seiten
ISBN:
978-3-936826630

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