Zugrundegerichtete Gabe Gottes
Wenn es nach dem Wunsch ihrer Eltern gegangen wäre, hätte Marina Zwetajewa der ersehnte Sohn Alexander sein sollen. So beginnt alles Leben mit einem grundlegenden Mißverständnis, welches sich fortan, wenn auch in wandelnden Formen, wie ein roter Faden durch ihr atemloses Leben ziehen sollte.
Marinas Mutter, eine verhinderte Pianistin, hätte es gerne gesehen, daß ihre Tochter Musikerin wird. So folgten die auferlegten Qualen des frühen Klavierunterrichts:
„Hitze. Bläue. Mückenmusik und Marter. Der Flügel steht dicht am Fenster, als versuchte er vergeblich, mit elefantischer Unbeholfenheit ins Freie zu gelangen, und durchs Fenster halb in die Stube hinein lehnt sich, wie eine lebendige Gestalt, der Jasmin“.
In charakteristischer Weise verknüpft Zwetajewa Farben, Klänge und Begriffe, die nicht zwingend miteinander zu tun haben, zu verblüffenden Assoziationsketten. Das Schriftbild ist unruhig, von Interpunktionen durchsetzt. Reflexionen werden in einer Art von Selbstgespräch zuweilen in Klammern gesetzt und ergänzen sich mit geschickt gewähltem Perspektivwechsel.
Und dann wieder überraschen eingeflochtene Äußerungen wie jene der Mutter gegenüber der vierjährigen Marina, die sich ihr eingebrannt hatten und wie ein Vermächtnis wirkten:
„Dein Beitrag ist die Bemühung, kann man doch jede Gabe Gottes zugrunde richten“.
In den Texten „Mutter und die Musik“, „Der Teufel“, „Die Kirillstöchter“ und „Das Haus beim Alten Pimen“ entfaltet Zwetajewa einen abenteuerlichen Rausch biographischer Prosa, die einen Hören und Sehen vergehen lassen. Kindheit und Jugend werden wieder zum Leben erweckt, verzahnen Erinnerungen mit der unmittelbaren Gegenwart.
Zwetajewas Dichtung vermittelt eine Ahnung über die ungeheure Wucht treffsicher gesetzter sprachlicher Zeichen. Ihr ungezügeltes Temperament, das sich bereits in ihren jungen Jahren bemerkbar machte und zuweilen die Konventionen ihres von Bildung und Kultur geprägten Elternhauses sprengte, prägt neben der Lyrik und den überlieferten Briefe auch ihre Prosa. Mit der für sie charakteristischen Mischung eines hellwachen Intellekts mit einer authentischen Emotionalität reagierte Zwetajewa auf die Herausforderungen ihrer familiären Umgebung ebenso wie auf ungewöhnliche Umstände. Die russische Oktoberrevolution hatte sich die Zerstörung der überkommenen Werteordnung zum Ziel gesetzt und auch Zwetajewas bisheriges Leben war in Folge aus dem Tritt geraten. Ihr Mann Sergej Efron bekämpfte als Offizier der Weißen Armee die Bolschewiki. Nach Jahren der Armut und Wirren sah sich Marina Zwetajewa 1922 gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und traf ihren Mann in Berlin wieder. Es folgten gemeinsame Stationen im Prager und Pariser Exil.
Die vorliegende Ausgabe umfasst Texte, die in den Jahren 1934 und 1935 in Paris erschienen sind. Jahre blanker Entbehrungen hatten Zwetajewa gezwungen, von der bewährten Lyrik auf Prosa zu wechseln.
Doch das Schicksal sollte sie mit voller Wucht treffen. Im Juni 1939 folgte Zwetajewa ihrem Mann, der in die Sowjetunion zurückgekehrt war. Eine verhängnisvolle Fehlentscheidung! Zwetajewa durchlebte die maßlose Willkür, die jene Zeit der staatlich verordneten Gewalt und Hysterie kennzeichnete. Als ehemalige Exilantin haftete ihr das Stigma einer Verräterin an – ein untrügliches Kennzeichen paranoider Regime. Nacheinander waren ihr Mann und die Tochter Ariadna verhaftet worden.
Eine Zeitlang konnte Marina Zwetajewa sich und ihren Sohn Georgi durch Übersetzungen von Dichtungen aus dem Bulgarischen, Französischen und Georgischen über Wasser halten. Die Teilnahmslosigkeit systemkonformer Schriftstellerkollegen wie etwa Alexander Fadejew, die ihr Los hätten vereinfachen können, ist erschütternd. Bitterste Not, Anfeindungen und eine entwürdigende Gleichgültigkeit ihrer Umgebung überstiegen für Zwetajewa das Maß des Erträglichen. Am 31. August 1941 nahm sie sich in Jelabuga das Leben. Im Oktober 1941 wurde Sergej Efron erschossen.
Wenn im heutigen Russland wieder die Gefahr der Einkreisung durch Feinde von außen sowie vor Nestbeschmutzern und Verräter im Inneren des Landes beschworen wird, erinnert dies an unselige Zeiten. Dabei führt der tragische Verlauf von Marina Zwetajewas Leben anschaulich vor Augen, wer für die Zerstörung Russlands und seiner vielfältigen Kultur verantwortlich ist. Es ist der Würgegriff der Tschekisten und ihrer angepassten Mitläufer, der Russland und seine begnadetsten Denker auf dem Gewissen hat.
Hervorzuheben ist die gelungene Übersetzung von Ilma Rakusa. Ihren bewährten Fähigkeiten ist zu verdanken, daß die Übertragung in das Deutsche der elektrisierenden Sprachkraft Zwetajewas gerecht geworden ist. Ilma Rakusa hat zudem ein informatives Nachwort verfasst, welches Auskünfte über die Entstehung dieser biographischen Prosaskizzen Marina Zwetajewas bereithält.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben