Vom Beobachten des Beobachters
Nominiert - Leipziger Buchpreis 2016 - Belletristik
Klug über Dichtung zu schreiben — das bedeutet, nachvollziehbar und mit Gewinn auch für den Leser, der nicht mit theoretischem Rüstzeug überreichlich ausgestattet ist —, bleibt eine Herausforderung, die souveränen Umgang mit dem Stoff genauso verlangt wie eine gewisse Bodenhaftung. Marion Poschmanns „Mondbetrachtung in mondloser Nacht“ sammelt Äußerungen, die sich unterschiedlichen Anlässen verdanken und dennoch zu einer Geschlossenheit kommen, die zwar kein ausgewiesenes Programm, aber eine kleine Poetologie in nuce enthalten, insofern sie genau über das Sensorium berichten, das Voraussetzung für das Schreiben von Lyrik und Prosa ist. Dem eher arbiträren Anlaß wird mit einer Offenheit begegnet, als sei er direkt innerer Notwendigkeit entstiegen. Es sind diese unscheinbaren, ganz persönlichen Erfahrungsmomente, die den Zugang zur Dichtung bereiten — etwa wenn Poschmann erzählt, wie in ihrer Bonner Studienzeit beim Anblick des regenspiegelnden Asphalts das erste eigenständige Gedicht auftaucht; oder wenn sie an einem entlegenen Stipendienort Walnüsse sammelt und die Geräusche von Apfel und Marder notiert; oder wenn sie Rieselfelder und renaturierte Uferlandschaften durchstreift; oder wenn sie schließlich den Steingarten Ryōan-ji in Kyoto aufsucht.
Ob nun beabsichtigt oder nur wundervoller Nebeneffekt: die Dichtung ist bei Poschmann nicht von der Lebenswelt, von der alltäglichen Verrichtung getrennt. Sehen, über das Gesehene reflektieren, das Reflektierte ins Gedicht verwandeln sind verschiedene Aspekte ein und derselben inneren Haltung. Nicht alle gesammelten Essays verhandeln unmittelbar die Belange der Dichtung, doch ergeben sich keine störenden Verwerfungen, wenn neben den Anmerkungen zur poetischen Taxonomie, zum Sonett, zu Ernst Meister und Wilhelm Raabe, etwa eine Kaffeefahrt, ein Grenzgang nach Polen, Nebelfunktionen oder ein Knochen von Mörike in den Fokus geraten. Dichtung erschafft, wie Poschmann sagt, hier tatsächlich ihre Räume, indem sie diese nämlich erst einmal innerhalb der Grenzen der subjektiven Wahrnehmung entwirft. Über die Mondbetrachtung bei Lehmann und Goethe führt der Weg in den längeren Poetikvorlesungen zu Metaphernräumen und Erinnerungsräumen des Romans, und es zeigt sich einmal mehr, auf welch erfreulich unkaprizöse Weise, auf welch zugängliche Art sich über Dichtung reden läßt, selbst wenn Poetik „immer ein Problem“ ist.
Erhellen die Essays die neue Gedichtsammlung oder werfen sie nur ein geliehenes, sekundäres Licht darauf, wie der Mond, so daß man sie in nächtlichem Licht entziffern müßte? Es hat sich durchgesetzt, daß die Essayistik das Erhellende und die Lyrik dasjenige ist, in dessen Dunkel ein wenig Licht hinzubringen wäre im günstigsten Fall. Doch der umgekehrte Gedanke entbehrt keineswegs des Reizes: Wenn das Schwierige, Angespannte des Gedichts sich in die Leichtigkeit des Essays entlüde, dort eine Form fände, in der Emotion und Reflektion in schöner Balance stünden? Wie Bilder durch die Imagination entstehen, wie die Imagination Räume entwirft, wie die Leerstellen im Raum Orte hoher Kraft und Spannung sind, führt Poschmann an wenigen eindringlichen Beispielen vor.
„Meine Texte sind ins Äußere gewendete Innenräume“, heißt es einmal im Hinblick vor allem auf ihre Romane, aber auch zu den Gedichten kann man sagen, es seien ins Innere gewendete Außenräume. „Geliehene Landschaften“ ist, wie einer Bemerkung am Ende des Gedichtbands zu entnehmen, ein Terminus aus dem klassischen chinesischen Gartenhandbuch des Ji Cheng, die Versetzung (also Entleihung) verschiedener Elemente in einen neuen Kontext, der im Kleinen das Weite und Allgemeine evozieren soll. Tatsächlich haben Reduktion und Abstraktion hier, vergleichen mit Poschmanns früheren Bänden, ihren vielleicht höchsten Grad erreicht. Die beschriebene Beobachtung im Sinne einer anschaulichen Nachvollziehbarkeit ist gleichsam skelettiert, ein Gerüst, das sich mit den Elementen einer anderen, nämlich besagter inneren Landschaft auffüllt.
In neun Zyklen werden verschiedene Orte umkreist, darunter Kaliningrad, Berlin-Lichtenberg, Coney Island, Kyōto, Matushima, Shanghai, Helsinki. Das Elementare wird in kleine Einheiten zerlegt, in sprachliche Muster aufgespalten, die ihrerseits verschoben, überblendet sind. Die Gedichte des Kaliningrad-Zyklus beispielsweise tragen Titel nach samländischen Bernsteinarten, wobei untergründig Johann Georg Hamanns Ästhetik gegen die Vernunftpriorität seines Königsberger Konkurrenten Immanuel Kant gesetzt ist; und dem Lichtenberger Zyklus über die Formsteine aus der früheren DDR entspricht als genaues Raster das Lehrstück. Der letzte Abschnitt aus der „Mondbetrachtung in mondloser Nacht“, genannt „Über Steine“, schlägt hier klare Bedeutungsbrücken — und zeigt nebenher, wie nüchternste Prosa in höchstem Maß lyrisch aufgeladen sein kann.
Wenn Dichtung also Räume erschafft, dann ist sie eine Form der Anthropologie; anders ausgedrückt: Über Natur wird in diesem Band nur unter anthropologischen Prämissen gesprochen, die einzelnen Landschaftsmerkmale sind sowohl Beschreibungen, die einen tatsächlichen Raum projizieren, und zwar in die Imagination hinein — wo die einzelnen Elemente sich miteinander verbinden —, als auch Reflektionen über den Raum, der mittels Sprache abstrahiert, in einen All-Raum überführt wird, durchbrochen von verschiedenen Motiven. Das Gedicht ist dabei die Bewußtmachung eines solchen Vorgangs.
Jeder Park voll Vertriebener, Heimweh nach Eden.
Die Leere und ihre Vergehen. So rede, Leere, ich sehe
dich nicht.
Der Leere aus stalinistischem Zerstörungswahn, die hier angesprochen wird, steht die Leere der japanischen Gartenkunst gegenüber, bei der Leerstellen die stärksten Kraftzentren sind. Eden existiert überall nur als Heimweh, nicht als Realität. Die Künstlichkeit der Landschaft — zu der auch die künstliche Landschaft des Gedichts zählt — ist der imaginierte Wunsch nach ursprünglicher Natur, die nicht mehr existiert, Natur als Nirgendort, sichtbar gemacht in den Splittern des Gedichts. Es gibt nur die von Menschen geformte Natur — Formsteine, die keine symbolische Darstellung eines Naturelements sind, oder aber die von der Natur geformten Bernsteine, die wir nicht ohne ein Assoziationshalo betrachten können, trotz oder womöglich wegen der Abwegigkeit, zu der die Namengebung führt. So klinken sich Landschaftsmerkmale in unser Wissen um Politik und Geschichte, in literarischen Gestalten wie Wang Wei oder Basho, in die Perspektive dieser literarischer Gestalten, so verzahnen sich gegenwärtige und historische Elemente zu einem imaginären Raum, dem Gedichtraum. Und das ganz alltäglich: Glühwürmchen als erste Laserpointer, Geisterbahnen als Einblicke in Emigrantenschicksale, Kohleflöze als Waldvernichter. Idyllen, Edenmomente, entstehen in Poschmanns Gedichten selten. Erholung findet nur, wer die verschiedenen Motive, die sich wie Kalyptren durch den Band ziehen, zu goutieren weiß.
Die Art der Sprachbehandlung verändert auch die Wahrnehmung, und ein Sinn avancierter Schreibweisen kann darin liegen, mit einer anderen Sprache eine andere Persona anzunehmen,
hält Poschmann behutsam formuliert fest, und tatsächlich lässt sich etwas Ähnliches über die Gedichte der „Geliehenen Landschaften“ behaupten, sie sind wie Gärten und Parks künstlich angelegte Biotope, in denen die Natur ihre Ursprünglichkeit ablegt und, unter einer Maske, zugleich wieder in anderer Form erscheint, konzentriert, nach Augen-Maß.
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