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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das Dorf heult

Einige ebenso persönliche wie notwendige Anmerkungen zu Max Sessners neuem Gedichtband »Langsame Männer«
Hamburg

Sterben niemals aber eins werden
mit dem Bezug des Sofas bietet
eine Möglichkeit des sanften
Verschwindens mit einem Lächeln

                       aus: »Halbfertige Zeichnung«

Wenn dies hier eine normale Rezension wäre, dürfte es sie gar nicht geben. Es fängt damit an, daß der Verfasser des zu rezensierenden Buches, Max Sessner, und der Rezensent, also ich, befreundet sind. Da wäre schon sofort Schluß. Es geht damit weiter, daß ich bereits vor Jahren öffentlich bekundet habe, daß ich Max Sessner für den besten lebenden Dichter deutscher Zunge halte. Ich bin also so was von befangen. Und schließlich: Ich schreibe selbst, und das neue Buch vom Max Sessner ist jetzt in dem Verlag erschienen, in dem meine Gedichte und Geschichten herausgekommen sind, in der Stadtlichter Presse. Persönliche Verquickung, völlig unmöglich. Nach normalen Maßstäben.

Aber es geht hier nicht um normale Maßstäbe. Es geht um Max Sessner und seine Gedichte. Deswegen ist dies keine normale Rezension. Es ist eine Sammlung von Anmerkungen. Von notwendigen Anmerkungen. Notwendig, weil: Es wäre mal dringend an der Zeit, daß Max Sessner und seine Arbeit von einem nennenswerten Teil der Menschheit wahrgenommen werden.

Alles schläft der Hund du und ich wir
schlafen die Mücke die uns eben noch
eifrig umsummte sitzt in einem winzigen
Büro und brütet über ihren Notizen

                       aus: »Alles schläft«

Ich halte Max für eine literarische Ausnahmeerscheinung, seit er im Januar 2001 blinzelnd an einem kargen Tisch in einem mittelgroßen Raum des Klosters Irsee in Bayern saß und mit einer Mischung aus Lampenfieber und einer untergründigen Sicherheit, die ihm vermutlich selbst gar nicht klar war, seine Gedichte vortrug. Dort habe ich ihn kennengelernt. Im Raum saßen außer ihm und mir um die zwanzig Kollegen, wir alle zusammen haben am Ende selbst den Preisträger des »Irseer Pegasus« aus unserer Mitte heraus gekürt. Wir kürten Max. Und es gab nicht den Funken eines Zweifels an dieser Entscheidung, bei niemandem.

Ich bin nicht der einzige, der Max Sessner für einen überragenden Dichter hält: »Ein Ausnahmetalent« (Nürnberger Zeitung). »… wie ein Lied oder ein Märchen« (Nürnberger Nachrichten). »Eleganz und Wunderlichkeit« (lyrikkritik.de). »Niemand schreibt wie Sessner« – ach nee, das zählt nicht, das ist von mir, aus den »horen«.

Aber es schreibt wirklich niemand wie Max. Er ist ein Lyriker, der Geschichten wie aus Prosa erzählt. Er wirkt wie ein Surrealist, ist aber streng der Wirklichkeit verhaftet – und all dem, was unter und über und hinter und neben dieser Wirklichkeit liegt. Und was wir nicht sehen und nicht messen und nicht anfassen können.

du warst eine schöne Frau

das Dorf konnte heulen wie
ein Hund in den Nächten wenn
du deine Kette abnahmst

                       aus: »Spaziergang«

Max Sessner wurde 1959 in Fürth geboren. Er lebt mit seiner Frau in Augsburg. Er war Buchhändler und arbeitet in einer Bibliothek und ist sowieso ein Büchernarr, außerdem Musikkenner, Bildbetrachter, Motorradfahrer. Und Tisch.

Heute bin ich der Tisch an dem
du sitzt gestern war ich etwas
anderes aber Tische kann ich
am besten von allen Möbeln

                       aus: »Tisch«

Es ist leichter zu sagen, was Max‘ Gedichte nicht sind, als andersherum. Ich habe mal geschrieben: »Sessners Texte sind nicht modern, aber auch nicht altmodisch. Sie sind nicht laut, wie so vieles derzeit, das sich nur hervorheben will. Sie sind nicht vollgestopft mit Zitaten, die oft nur die Belesenheit des Autors demonstrieren sollen. «

Tja. Wie also sind Max Sessners Texte? Sie sind nicht mit dem oberdeutschen Celanenzensbergerbachmanntonfall infiziert. Sie haben aber nun überhaupt gar nichts mit diesen angesagten Berliner Wir-machen-die-Texte-des-neuen-Jahrtausends-Lyrikern zu tun. Sie schmecken nicht nach Rotwein.

Der Nachruhm ach ja vielleicht
erinnern Kinder sich an mich die
mir winkten als ich mit dem Motorrad
an ihnen vorbeifuhr und ich winkte
zurück und dieses Winken bekommt
seinen Platz in der Anthologie der

schnell verblaßten Dinge wie
Vogelflug oder eilige Küsse

                       aus: Vom Winken

Genau. So sind Max‘ Texte. Wie die schnell verblaßten Dinge. Von denen man dann nach einer Weile feststellt, daß man sie nicht vergessen hat und niemals vergessen wird.

Sie sind unglaublich streng. Ihre Form ist beinahe physisch. Sie folgt unumstößlichen Regeln. Was wir auf dem Papier sehen, ist ein Block, ist eine Stele. Manchmal gibt es einzelne Strophen. Die orientieren sich dann auch wieder an der physischen Form: Wenn sie vier Zeilen haben, habe sie alle vier Zeilen, und zwar alle nahezu gleich lang, und zwar ohne Rücksicht darauf, wo der Satz zu dem Zeitpunkt gerade angekommen ist. Diese Strenge in Max‘ Texten ist eine Notwendigkeit. Gäbe es sie nicht, würden die Gedichte einfach in Scherben fallen. Weil das Ausmaß an Gefühl darin viel zu groß für ein Blatt wäre. Also auch für ein Buch. Und für die Welt und für alles. 

Diese Gedichte reden wie jemand, der abends in der Kneipe, wenn ihm die Sehnsucht schon anderthalb Bier zwischen die Zähne gegossen hat, sein Weh und sein Glück verschämt auf dem Tisch ausbreitet, in der Hoffnung, daß alle drumherum, wie immer, bloß mit sich selbst beschäftigt sind und ihn nicht bemerken. Und der dann da sitzt mit Glück und Weh und auf einmal nicht mehr weiß, was von beidem jetzt was war.

Feiner Staub ist auf ihre Gesichter
gefallen hat sich festgesetzt in den
Falten der Stirn in den Mundwinkeln
wohin nur noch selten ein Lächeln
gelangt und wenn steigt ein wenig
Staub auf und schwebt vor ihren
Lippen kurz ehe er sich wieder legt

                       aus: »Ältere Ehepaar«

Immer wieder habe ich den Eindruck, daß Max keinen Schimmer hat, wie gut er ist.

(Obwohl dies keine normale Rezension ist, muß ich noch eine Rezensionsanmerkung machen. Sie gilt nicht den Texten. Max Sessners Buch »Langsame Männer« ist eine bibliophile Produktion der Stadtlichter Presse. Es ist schmal, es hat keine ISB-Nummer, es ist wertvoll. Der Innenteil ist zwar normal gedruckt, aber das Buch ist von Hand gebunden und enthält außer den Texten auch Holzschnitte. Und der Umschlag ist ein kompletter mehrfarbiger Original-Holzschnitt. Diese Arbeiten sind von Heike Küster, Jahrgang 1967. Der Verlag schreibt, sie habe den Band »illustriert«. Das ist eine maßlose Untertreibung. Die vier Holzschnitte im Buch verhalten sich zu den Gedichten, wie sich die Gedichte zur Wirklichkeit verhalten: Sie erzählen Geschichten, die zwei Stockwerke tiefer liegen. Die wir sonst nicht sehen könnten. Und das Umschlagbild – du lieber Himmel. Allein es anzufassen. Haben Sie mal einen Holzschnitt angefaßt? Also.)

Max Sessner
Langsame Männer
einmaligen Auflage von 70 arabisch und 10 römisch numerierten Exemplaren. Den 10 Exemplaren der Vorzugsausgabe liegt ein Original-Holzschnitt von Heike Küster bei, von der Künstlerin signiert.
Stadtlichter Presse
2015 · 28 Seiten · 25,00 Euro

Fixpoetry 2015
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