"Das Karussell knarrt."
Der große Vorteil, den es hat, eine Erzählung von vornherein der Logik von Träumen zu unterwerfen -- auch denkbar: der strikt seriellen Logik des Kinderspiels -- ist natürlich, dass "mehr geht"; dass einem das Material viel weniger Widerstand entgegensetzt und dass der einzelne Handlungsschwenk viel weniger weit im Voraus geplant sein will; auch die 'suspension of disbelief' beim Rezipienten ist gleich um einiges 'more willing', wenn man im Tonfall diese zum Traum (bzw. Kinderspiel) gehörige Atmosphäre unhintergehbarer Unmittelbarkeit des jeweiligen Geschehens aufrufen kann. Insbesondere die Verwandlung als Modus des Handlungvorantreibens geht leichter von der Hand, wenn ich mich nicht darum zu kümmern brauche, ob jedes Element eines langen Erzähltextes stets widerspruchsfrei zu jedem anderen passt; Hauptsache, es passt atmosphärisch, und nichts stagniert...
Der große Nachteil, mit dem man alle diese Plastizität erkauft, ist dementsprechend, dass beim Leser notwendigerweise der Eindruck hinterlassen werden wird, eben: durch einen Traum, durch anderer Leute 'make-believe' zu waten. Ein Erzähltext, der darauf verzichtet, mir nachvollziehbare Realitätsebenen außer der strikt kindlichen/emotionalen anzubieten -- er verzichtet auch darauf, dass ich sein Geschehen auf eine mir bekannte Wirklichkeit außer der strikt kindlichen beziehen werde.
Das Motiv des wiederholten Erwachens -- du wachst nach einem verworrenen Traum auf, und genau, da Du Dich sicher wähnst, wird Dir die firme Gewissheit über die Wirklichkeit des nun Erlebten wieder entzogen ("Ist dies noch der Traum? Wann wird er enden?") -- es ist genau deswegen so gruselig und so beliebt in bestimmten Nischen des Horrorgenres, weil es einen als Rezipienten an der Stelle packt, da die Entscheidung darüber getroffen (und permanent nachverhandelt) wird, wie weit ich mich auf den Text einlassen darf: Welcher Sorte Welt wohne ich bei? Das Spiel mit der Zuverlässigkeit des Erzählers kommt hier nur als stilistische Variante zum Tragen, als Serviervorschlag des Hauptgerichts 'verrutschte Wirklichkeiten'.
Michelle Steinbecks Roman genannter langer Erzähltext "Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch" funktioniert auf der Grundlage aller der genannten Erwägungen. Wir dürfen es nicht als ironische Brechung im Sinne einer Ausflucht unsicherer Erzähler lesen, sondern als selbstbewusstes 'mission statement', wenn recht früh im Text zu lesen ist:
Schnell setze ich mich auf. Das Kind ist weg. Ich schlage vor Freude gegen die Wand. Dann horche ich an der Wand zum Wohnzimmer: nichts. Wie schön, dass ich keine Kinderleiche mit saftendem Kopf hier habe, um die ich mich kümmern muss. Was man sich nicht alles zusammenträumt! Wie lange habe ich geschlafen? Jetzt etwas essen! Ich stehe auf, und da sehe ich die Hand des Kindes unter der Heizung hervorlugen. Kopfüber klemmt es da, seltsam verkrümmt zwischen Wand und Radiator, und aus den hochgerutschten Hosen ragen bleiche Beinchen in schmutzigen Ringelsocken.
Es ist mit dieser Stelle vieles von dem aufgerufen, was es Wissenswertes über Steinbecks Buch zu sagen gibt: In apodiktischem, sich selbst kaum im Wege stehendem Stil schiebt sich die Handlung voran; der Blickwinkel bleibt wesentlich kindlich, auch wenn das Geschehen immer wieder mal ziemlich 'erwachsen' und keineswegs lustig wird (will sagen: die Unsicherheit über die Spielregeln, die jeweils gelten, ist für uns und für dieses Erzähl-Ich so verbindend, wie es für den Text konstitutiv ist; eine Eigenschaft, die das Buch mit "Alice im Wunderland" gemeinsam hat); alle Naselang verschiebt sich, was wirklich war und was nicht; das heißt dann auch, wir müssen bis dahin Gelesenes neu interpretieren; wir machen das auch gerne, denn Steinbecks Buch hält die Balance, uns immer gerade genug 'Wirklichkeit' zu geben, um uns 'invested' zu halten, aber diese Wirklichkeit bleibt stets prekär genug, um uns beim (identifikatorischen) Lesen auf der Hut zu halten.
Inhaltlich wird, je nachdem, was da nun Traum und was Wirklichkeit ist, eine Vater-Kind-Kiste entweder halluzinatorisch 'aufgearbeitet' oder tatsächlich auf neue Beine gestellt ... Nein. Stopp. Ich werde hier nicht versuchen, zu heucheln, ich hätte sicher verstanden, was in dem Band tatsächlich vor sich geht. Nach zweimaligem Lesen erscheint mir die plausibelste Lesart, der Vater sei tot, sein Schreibtisch müsse nun aufgeräumt werden, und die ganzen Kinder, die unser Ich umwuseln, seine Erinnerungen, über deren Status als solche sich das Ich eh im Klaren ist, ohne das allerdings uns Leser wissen zu lassen... bevor ich auf diese Option kam, habe ich lange gedacht, es sei das Ich selbst der Vater, der allerdings aus Unachtsamkeit den Tod eines Kindes mitverantwortet, womit er dann so umgeht, selbst Kind zu werden und als solches wiederum zu spielen, es sei der Vater tot... Aber das geht sich nicht ganz aus. Und dabei habe ich hier von der Handlung, die sich auf dieser solchen Grundlage dann entspinnt, mit Wahrsagerin und Eheanbahnung uns allem, noch gar nicht angefangen ... Zu sagen, "Eh alles nur ein Traum", das ist zu wenig; statt dessen zu sagen "Sie bringt das tote Kind zum Vater, aha, symbolischsymbolisch", das reduziert den Text auf eine Art therapeutisches Artefakt und wird ihm nicht gerecht ... Die Suche nach der 'wirklichen Wirklichkeit', die diesem reichlich phantastischen Text entspricht, ist auch dann die m.m.N. angemessene Rezeptionsweise, wenn eh von vornherein klar ist, dass sie fragwürdige Ergebnisse zeitigen wird.
... Macht aber alles nichts. Der gegenwärtig dominante Scheinrealismus ist ohnehin überbewertet, und der Weg ist das Ziel. Ich muss im Nachhinein nicht sagen können, dass ich wüsste, was da jetzt im Einzelnen 'wahr' war und was nicht, um zu konstatieren, dass ich "Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch" mit dem Vergnügen der Angstlust gelesen habe und mich von der Autorin nur insoweit (gekonnt) genasführt fühle, als das ihr Job ist.
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