Geköpfter Schatten
Der 1954 im nordböhmischen Varnsdorf geborene Milan Hrabal ist ein heimatverbundener tschechischer Schriftsteller. Sowohl sein lyrisches Werk wie auch sein bemerkenswertes Engagement als Nachdichter und Übersetzer kann auf seine bewußt wahrgenommene Nachbarschaft zu Polen, zu Deutschland sowie zur Oberlausitz mit einer angestammten sorbischen Tradition zurückgeführt werden. Die besondere Situation, die sich durch die Vertreibung der deutschböhmischen Bevölkerung in der Folge des Zweiten Weltkrieges ergeben hatte, war durchaus prägend für Milan Hrabal. Er hatte in seiner Kindheit die verlassenen Gehöfte und Häuser vor Augen und es war zu spüren, daß etwas Außerordentliches vonstatten gegangen war. Der abrupte Bruch einer jahrhundertealten gewachsenen Tradition war atmosphärisch spürbar. Nicht von ungefähr endet das Gedicht „Das Kellergewölbe“ mit den Versen „im Winkel deiner Gedanken / hat jemand mit Nachdruck geseufzt“. Die verwaisten Orte waren beseelt, die Dinge schienen zuweilen eine Art Kontakt zu den Übriggebliebenen aufnehmen zu wollen.
In einer ganzen Reihe von Gedichten Milan Hrabals finden sich Reminiszenzen an seine geheimnisvolle Kindheit. Schlüsselmotive wie etwa der Garten, die Großmutter, der Dorfplatz oder das von der Familie bewohnte Haus lösen eine ganze Reihe von Bildern aus, Erinnerungen und auch Phantasien. Zugleich sind diese konkreten Orte immer auch angereichert von Ahnungen, Berührungen, Rätsel oder auch der alles umhüllenden Nacht. Auf diese Weise entfalten sich eigenwillige Erlebnismuster:
Zuhause
Hinter dem Hausrücken
geht auf und ab
ein geköpfter Schattenkann nicht sterben
nicht fortgehndie Ahornbäume an der Pforte
bewachen streng
jedes Knarrenseh ich mich um seh ich
über dem Spitzberg sinkt
immer noch
der erste Stern
Die Kindheit ist freilich nur scheinbar ein Hort ungetrübter Idylle und wird durch fremdartige Rätsel immer wieder aufgestört. Die Vertrautheit der Behausung und der familiären Eingebundenheit bildet einen Hintergrund, der zuweilen von Erinnerungen an das Grauen durchbrochen wird. In „Immer wieder“ wird sogar der topographische Ort der „Sudeten“ genannt, mit welchem die überwiegend von Deutschen besiedelten Gebiete bezeichnet wurden. Milan Hrabals gedankliche Rückkehr, die immer wieder stattfindet, ist von schrecklichen Vorkommnissen überschattet. Unbestimmte Ängste flackern auf, Menschen auf der Flucht, Soldaten und „kurz darauf / suche ich den Erhängten unter dem Sims“.
Ein ganz besonderer Reiz dieser Verse liegt darin begründet, daß scheinbare Gegensätze wie Momente der Gefahren und des Gefallens sich nicht auszuschließen scheinen. Ein leichtfüßiger Ansatz, der an das ausgelassene Spiel erinnert. In einer eigentümlichen Unbekümmertheit, wie sie der Kindheit zueigen ist, reichern sich Gegensätze in der Wahrnehmung an, und bilden zugleich völlig neue Nachbarschaften:
Im Garten gegenüber
Genau vor unserem Küchenfenster
tanzt die Schneekönigindas ist der Wind im Plastikbeutel
verfangen im Geäst des alten Apfelbaumsund ich soll kein Kind mehr sein
Das vorliegende Bändchen besteht aus fünf Abschnitten, die aus verschiedenen Bänden und auch Manuskripten Milan Hrabals zusammengestellt sind. Der mittlere Teil „Zeit ohne Flügel und Anker“ bildet in vierzehn Gedichten die
traditionell überlieferten vierzehn Stationen des Kreuzweges Christi ab. Es wäre im höchsten Maße irreführend, wenn man diese poetische Form der Verdichtung auf konventionelle Formen religiöser Dichtung reduzieren würde. In Böhmen ist , im Unterschied zu Mähren, das religiöse Element im öffentlichen Diskurs und auch in der Alltagskultur kaum vertreten. Die Gründe dafür lassen sich in der besonderen historischen Entwicklung finden. Der grausame Tod des Reformators Jan Hus auf dem Scheiterhaufen sowie eine gewaltsame katholische Gegenreformation in Böhmen liefern hierzu notwendige Stichworte.
Dennoch gibt es in der tschechischen Literatur seit der Zwischenkriegszeit auch die Herausbildung einer „Katholischen Moderne“. Solitäre Dichter wie etwa Jakub Deml, Zdeněk Rotrekl, Ivan Slavík oder Jan Zahradníček haben maßgebliche und bleibende Werke geschaffen. Für sie stellte Religiosität keine bigotte Einschnürung der Lebensfreude dar. Vielmehr ermöglichte ihnen die geistliche Begegnung mit der Welt der Transzendenz ungeahnte dynamische Kräfte. Das Dasein in einer widersprüchlichen Welt wird bei diesen Dichtern einer christlichen Spiritualität durchaus in literarisch modernen Formen reflektiert. Gerade Milan Hrabals Kreuzwegstationen belegen die außergewöhnliche Tiefe einer existentialistischen Empfindung: „nicht zu sein bedeutet nicht glauben zu dürfen“. Die religiöse Erfahrung eröffnet hier den Zugang zu einem erfüllten Leben, indem sie dazu beiträgt, die Sinne für bislang Unerkanntes aufmerksam zu machen.
In Tschechien hat Milan Hrabal eine Reihe von Gedichtbänden vorgelegt. Die vorliegende Ausgabe sammelt Texte des tschechischen Dichters in einem erstmals zweisprachig gehaltenen Band. Mit der Übersetzerin Róža Domašcyna eint Milan Hrabal neben dem verwandten Jahrgang zudem die Liebe und Nähe zur sorbischen Lyrik.
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