Schritt aus der Dunkelkammer
Ja, das Internet. Als sich die Welt von der 63-jährigen Lea entfernt, als sie sich bewusst wird, dass sie damit leben muss, auf der Straße, im realen Leben „Muttchen“ oder „Oma“ genannt zu werden, dies auch noch in ganz gutmütiger Absicht, da entdeckt die Frau des Wortes - Lea ist Schriftstellerin - die Kontaktbörse Internet, die eigentliche Welt des Wortes. Hier kann sie sich dreißig Jahre jünger machen, hier kann sie unter vielen Schwanz- und Waschbrettbauchanpreisern Leute treffen, die ebenfalls mit Worten umgehen können, sogenannte Weiße Elefanten. Männer, mit denen sie nach dem Austausch von Rilke Zitaten eigentlich auch nichts anderes macht, als die Schwanz- und Waschbrettbauchanpreiser wollen. Das Internet als Dunkelkammer, in der die Phantasie noch einmal eine Chance erhält. Lea wird süchtig. Muttchen vergessen, Oma vergessen. In Muttchen und Oma steckt nämlich noch das Mädchen, die junge Frau, die spielen will. Die Dunkelkammer Internet wird die Spielwiese für die Seele. Und der Körper? Lea schämt sich in ihrem Alter solche Spielchen zu machen, aber sie spielt weiter. Die Sucht, die Sehnsucht. Und ihr erster Gefährte, mit dem sie eine Grenze überschreitet, indem sie die reale E-Mail-Adresse tauschen, öffnet ihr die Augen. Nicht nur, dass er, obwohl sie eine fiktive Adresse eingerichtet hatte, über sie allerhand im Internet gefunden hat, auch ihr Alter, das sie in der Dunkelheit des Internets schlicht halbiert hatte, er beteuert ihr, dass er reife Frauen viel interessanter findet. Lea ist perplex. Ihr müder Leib, ihr Muttchen- und Oma-Alter interessant für einen Mitte Dreißigjährigen? Was sie kaum noch ertragen konnte, diesen seit mehr als einem Jahrzehnt von Männern verschmähten Leib, das auf Nimmerwiedersehen entschwundene „Funkeln“ in den Augen der Männer, plötzlich blinkte es ihr aus der kalten Scheibe des Monitors entgegen. Und sie begann „Zaubertränke aus Worten zu bereiten“, an denen der Angesprochene sich berauschte, wie andere Männer am Parfüm der Angebeteten.
Doch die seltsame Atmosphäre des Chatrooms zieht sie mehr an, als der direkte Austausch per E-Mail. Sie wechselt die Nicknamen und erfährt, dass im Dunkel des Internet alles möglich ist, alle perversen Wünsche ausgesprochen. Sie findet Kinderficker, die sich auch so nennen oder Männer, die jemanden suchen, der sie kastriert. Einen, der ankündigte, sich umzubringen, hält sie ein paar aufregende Stunden davon ab. Dann ist es soweit, sie lässt sich auf einen „Realdate“ ein. Mit einem katholischen jungen Pfarrer. So plötzlich, wie er über im Flughafen vor ihr steht, will sie ihn wieder loswerden. Ein untersetzter schwitzender Typ: „Auf bestürzende Weise bestätigte der Anblick des Pfarrers Leas Verdacht, dass Erotikchats Treffpunkte für die Erniedrigten und Beleidigten waren, für solche wie sie selbst, die in der leibhaftigen Wirklichkeit keine Chancen beim anderen Geschlecht hatten.“ Trotzdem, wohl um „das“ hinter sich zu bringen, zieht sie ihn auf ihr „Nonnenbett“, das, Gottlob, bevor etwas „passiert“, unter der ungewohnten Last zusammenkracht.
Eine wirklich schöne Geschichte beschert ihr der Chatroom, nachdem sie sich eine teure Liege für Zwei gekauft hatte: einen 23jährigen Musiker, der gleich nebenan wohnt. Dem es ebenfalls nichts ausmacht, dass sie seine Großmutter sein könnte, mit dem sie endlich mal wieder Sex hat, sie ist „überrascht von dem schon fast vergessenen Geruch der Paarung zwischen ihren Schenkeln“. Und er setzt sich danach an ihr verstaubtes vergessenes Klavier. -
Dieser, wie auch andere junge Männer, verlieben sich später in Gleichaltrige. Am Ende verliert Lea die Lust am Spiel und telefoniert mit Freundinnen, die bald sterben und träumt, dass sie etwas sucht, immer wieder „vom Suchen, als gäbe es wirklich etwas zu finden“.
Ein genialer Schluss-Satz.
Wider eigenem Erwarten hat mich das Buch gefesselt. Zwar fragt man sich zwischendurch, liest das noch jemand außer mir? Es ist wohl die Konsequenz des Denkens: Natürlich steckt im Körper einer 63-jährigen, einer 80-jährigen, wohl auch einer 100-jährigen die Seele einer jungen Frau, einer auf der Suche befindlichen. Diese Chatroom-Episoden bescheren Lea nicht nur die Erinnerung daran, sondern sogar wider Erwarten Erfüllung. Dass auf Lea und den Leser eine Ernüchterung zum Ende des Buches wartet, ahnt man vom ersten Kontakt an, alles andere wäre Illusion.
Dazu ist Natascha Wodin, die acht gespenstische Jahre mit Wolfgang Hilbig verheiratet war und darüber auch in „Nachtgeschwister“ erzählte, zu sehr Realistin. Fast zu hektisch erzählt sie weitere Episoden der Chatsüchtigen. Um dann quälend ausführlich zu beschreiben, wie ihr Gedächtnis aussetzt, als sie ihr Auto wiederfinden will. Ein kleines großes Buch über das fremde Land Alter.
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