Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Der Soldat aus Kall

Norbert Scheuer beobachtet exotische Vögel mitten im Krieg
Hamburg

Der Mensch ist kein Vogel heißt es in dem Brecht-Gedicht „Der Schneider von Ulm“. Der Mensch ist kein Vogel, aber er wäre gern einer. Er verstünde gern die Sprache der Vögel, die vielleicht eine Universalsprache ist, so wie die Menschen, bevor sie den Turm zu Babel bauten, eine gemeinsame Sprache sprachen. In Norbert Scheuers Roman „Die Sprache der Vögel“ erforschte Ambrosius Arimond 1770 auf seinen Reisen durch Persien die Sprache der Vögel. Auch träumte er vom Fliegen, wenige Jahrzehnte vor dem Schneider von Ulm, Berblinger. Dieser Traum blieb in der Familie. Der Vater des Protagonisten Paul  feilt an der Technik des Hochspringens und er springt und springt, vor sich, vor seiner untreuen Frau, vielleicht vor seinen Kindern davon, in die Höhe, aber Fliegen wird er nur ein einziges Mal - in den Tod. Und auch der Sohn flieht: vor den Folgen eines von ihm verschuldeten Unfalls, bei dem sein bester Freund körperlichen und geistigen Schaden davontrug. Paul Arimond geht, 23-jährig, als Sanitäter von Kall in der Eifel nach Afghanistan. Ein Jahr lang schreibt er eine Art Tagebuch, 2003 bis 2004. Die gemeinsame Freundin, die sich um den behinderten Freund kümmert, wird er verlieren, das ahnt er. Das Geschehen im Lager ist eintönig, wenig des Erzählens wert. So widmet er sich in seiner Freizeit wie sein Vorfahre Ambrosius voller Hingabe dem Studium der dortigen Vogelwelt. Macht Notizen, tuscht die beobachteten Vögel aus der Erinnerung mit einem Kaffeesud aufs Papier, sammelt Federn. Findet einen Weg aus dem schwer bewachten Lager zu einem See, wo sich unzählige Vögel versammelt haben. Findet dort einen afghanischen Freund, leiht ihm sein Fernglas. Als entdeckt wird, dass er sich aus dem Lager entfernt, ist Schluss mit diesen Vogelexkursionen, unter der misstrauischen Bewachung durch einen Kameraden wird Paul mehr und mehr zum Sonderling.

Norbert Scheuer erzählt dies mit sparsamen Mitteln und in kleinen „Portionen“. Die Tagebucheintragungen sind oft nicht einmal eine Seite lang. Ein Erzählstrang, ebenfalls aus Pauls Perspektive, verfolgt die Geschichte des Vaters, bis dieser schließlich - einmal doch fliegen - von einer Brücke springt. Ein anderer Strang erzählt vom Sichentfernen der Freundin, die einen Tierarzt findet. Ein weiterer von der kranken ehemaligen Lehrerin Pauls, Helena, die Pauls Aufzeichnungen aus Afghanistan in die Hände bekommt und die uns schließlich Pauls Ende erzählt, der, nachdem er vom Tod seines behinderten Freundes gehört hat, durch Afghanistan irrt, sich selbst endgültig verloren. Eine Collage aus mehreren Stimmen, ein düsterer, trauriger, verlorener Grundton - über dem eine übermütige Lerchenstimme zwitschert, die wenigen Passagen, in denen der Vorfahre Ambrosius zu Wort kommt: „Ich sah Menschenkreaturen, die des Fliegens kundig waren, die mit künstlichen Fittichen gleich einem Aare hoch droben im azurnen Luftmeere zu schweben vermochten.“ Oder „Mit wunderhübschen dunkelhäutigen Frauen, Meisterinnen der Liebeskunst, rauche ich die Haschinin“. Die heile Welt, die Welt wie ein Traum. Im Lager der Sanitätereinheit gibt es eine Bar, getrunken wird ohne Ende, Drogen genommen. Flucht auch hier. Vor den unguten Nachrichten von Zuhause, vor den Erlebnissen im Einsatz, die Scheuer fast nur in emotionslose, nüchterne Nebensätze packt. „Eine Mädchenschule ist niedergebrannt worden“. Die Erlebnisse verschmelzen in Pauls Träumen mit den Vogelbeobachtungen. „Ich höre mein Herz schlagen und sehe mein Leben davonfliegen.“

Der häufige Wechsel der Perspektiven verhindert eine Identifikation mit dem Protagonisten Paul. Die Frauen, auch die Lehrerin, bleiben seltsam farblos, oder sind sogar unsympathisch wie seine Mutter. Ein hilfloses Ausgeliefertsein dem täglichen Einerlei, der Hitze. Nur der See verspricht Linderung, Kühlung, dort weht ein leichter Wind. 

Am Ende ist Paul tot, sein afghanischer Freund am See tot, sein Freund Zuhause tot, sein Vater tot, die Schwester drogengefährdet, die Freundin hat einen anderen, die Mutter hat einen anderen. Auch die Lehrerin hat neben ihrem Mann einen anderen. Alles ist durchlässig, nichts stimmt mehr. Es wird nun auch in Zweifel gezogen, dass der Vorfahre Ambrosius überhaupt in der Ferne war - auf jeden Fall konnte er gut schreiben. Die Ambrosius-Passagen sind in kursiver Schrift. War er nie fort, hat er sich alles nur ausgedacht, wie die spätbarocken Schelme? Seine „Flughaut“ entpuppt sich als Militärmantel, seine Aufzeichnungen zerfallen zu Staub, als sein Nachkomme sich nach ihnen bückt oder hat dieser sich das auch nur ausgedacht? Auch Lehrerin Helena, die Pauls Aufzeichnungen von einem Kameraden Pauls bekommen hat, der behauptet hat, dass Paul im gleichen Krankenhaus wie seine Lehrerin liege, erfährt, als sie nachfragte, dass er nie dort gewesen war.

Einzig die Vögel bleiben. Ihnen gehören die farbigsten, emotionalsten Beschreibungen, die ganze Aufmerksamkeit. Das ist eine ungleiche Frontstellung: Hier der Krieg, den keiner will, mit seinen Grausamkeiten, den äußeren und inneren Verletzungen der Zivilbevölkerung, der Sanitäter. Und dort die wunderbare exotische Vogelwelt, die Droge des Soldaten Paul aus Kall, der den Spuren seines Vorfahren folgt. Das hätte genügt, denn es ist ein starkes Motiv, nach der Universalsprache der Vögel in einem Land zu suchen, das bei knapp 30 Millionen Einwohnern 49 Sprachen und 200 Dialekte spricht. Ein Babel der Jetztzeit.

Die Anhäufung der familiären Katastrophen, des Vaters, der mit seiner Leidenschaft zur Höhe scheitert und auch noch von einer Brücke „fliegen“ muss, die Mutter, die sich selbst aus der Familie ausschloss, indem sie sich einen Skorpion auf den Hals tätowieren lässt, die Schwester, die in Drogenmissbrauch abstürzt - das ist alles zuviel. Und schadet der Kerngeschichte. So karg Norbert Scheuer in der Sprache bleibt, so üppig wirft er assoziativen Ballast in Nebenmotiven aufs Papier, überreizt das Motiv des Fliegens. Der Mensch ist kein Vogel.

Norbert Scheuer
Die Sprache der Vögel
24 Abb.
C.H. Beck
2015 · 238 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-406-67745-8

Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge