Endlich zu Hause
Es gibt Orte, die derart bizarr und zugleich unheimlich-vertraut sind, dass selbst ein dreimaliges Zusammenschlagen der Hacken nicht ausreicht, um sie zu verlassen. Egal, wie oft sich Dana denken mag: „Es ist nirgendwo so schön wie daheim“ – wenn auch wahrscheinlich durch die Verzweiflung idealisiert, ist L.A. im Jahr 1976, zumal für eine Schwarze Frau, allemal ein besserer Ort als eine Plantage im Süden der USA im Jahr 1815 – Octavia Butler entlässt ihre Protagonistin nicht so leicht aus dem Zeitloch, in das sie immer wieder unversehens hineingesogen wird. Nichts Geringeres als Todesangst muss her, um Dana zurück in ihre Gegenwart zu katapultieren. Allein diese makabre Prämisse lässt ahnen, dass „Kindred“ im Verlauf der Handlung weitaus dunklere Kammern der individuellen Psyche und des kollektiven Gedächtnisses öffnen wird, als die eher harmlos eingeführte Zeitreise-Thematik zunächst vermuten lässt.
Als der Roman 1979 in den USA erschien, war er eine kleine Sensation – nicht nur, dass eine Frau sich der Science Fiction verschrieben hatte, dazu noch eine Schwarze Frau, die explizit für die afrikanische Diaspora und insbesondere für andere Schwarze Frauen schrieb. Dass die deutsche Erstübersetzung von 1983 Octavia Butlers „positioniertem Schreiben“ kaum Rechnung tragen konnte, versteht sich fast von selbst. Umso schöner, dass nun der Berliner Independent-Verlag w_orten & meer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, antidiskriminierendes Handeln in Sprache zu übertragen, eine Neuübersetzung herausgebracht hat.
„Ich bin eine Schwarze Frau, Rufe“, so Danas mutiges Selbstbekenntnis gegenüber dem Sohn des Plantagenbesitzers, der sie immer, wenn er sich in Not befindet, aus ihrer Welt hinüber in seine holt. „Wenn du irgendetwas anstelle meines Namens zu mir sagen willst, dann das.“
Derartige Momente des Empowerments gönnt Butler ihren Leser_innen allerdings selten. Bezeichnenderweise fällt Danas Selbstaffirmation in ihre erste, kurze Zeitreise, in der sie sich – mit dem Kopf noch ganz in den 1970ern verhaftet – fühlt wie die Zuschauerin eines grotesken Historienspektakels. Je häufiger, je länger Danas Aufenthalte auf der Plantage werden, desto weniger gelingt es ihr, die Distanz zu wahren zu dem, was um sie her und mit ihr geschieht, desto mehr drohen Danas Ich und die Rolle, die sie spielt, in eins zu fallen.
„Sklaverei war ein langer, langsamer Prozess des Dumpfwerdens“, vielleicht ist dies der zentrale Satz, den „Kindred“ auf beklemmende Weise fühlbar macht – ein düsterer Subtext, der sich in der Neuübersetzung weitaus deutlicher herausschält als in der Version von 1983.
Warum Dana überhaupt so lange auf der Plantage ausharrt, mag man sich fragen. Warum sie Rufus Weylin, der, je älter er wird, mehr und mehr seinem rassistischen, sexistischen Vater zu gleichen beginnt, ein ums andere Mal das Leben rettet. Nun – zunächst findet Dana heraus, dass Rufus aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Ur-ur-ur-urgroßvater ist. Eine schockierende Erkenntnis, die zum einen die Idee der „reinen Blutlinie“ radikal in Frage stellt, zum anderen Dana in ein ziemlich perfides wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis mit einem angehenden Sklavenhalter und Vergewaltiger hineinzwingt. Rational weiß Dana zwar, dass Rufus auch unabhängig von ihr überleben muss – dennoch hält sie etwas davon ab, dieses Wissen auf die Probe zu stellen und damit potentiell auch ihre eigene Existenz zu gefährden. Sich selbst an die Schwelle des Todes zu befördern, ist sicher keine angenehme oder leichte Aufgabe. Und doch fragt man sich beim Lesen des Öfteren, warum sie nicht alles daran setzt, jene Welt, in der Erniedrigungen und Auspeitschungen zum Alltag gehören, gegen ihr relativ unbeschwertes Leben an der Seite ihres freundlichen weißen Ehemanns im Kalifornien der 1970er Jahr einzutauschen. Tatsächlich aber wählt Dana diese Methode der Rückkehr nur ein einziges Mal.
Sie möchte ein paar versklavten Kindern das Lesen und Schreiben beibringen, sie möchte Rufus‘ Denken beeinflussen und es damit auch Alice, ihrer Ur-ur-ur-urgroßmutter in spe etwas leichter machen, so ihre Argumentation. Dafür nimmt sie nicht nur in Kauf, sich immer tiefer in das komplexe Liebe-Hass-Verhältnis zu Rufus zu verstricken, sondern auch, dem „langen, langsamen Prozess des Dumpfwerdens“ mehr und mehr anheimzufallen. Als sie bei einer weiteren Zeitreise zusammen mit ihrem Partner auf der Plantage landet und dort mehrere Monate verbringt, geht Dana das, was sie vermeinte lediglich darzustellen, unmerklich über in Fleisch und Blut: „Kevin und ich wurden immer mehr Teil des Haushalts, vertraut, akzeptiert, akzeptierend. Auch das verstörte mich.“ Immer öfter ertappt sich Dana dabei, wie sie andere Versklavte zur Vorsicht und zum Stillschweigen ermahnt, wie sie Alice sogar dazu rät, sich Rufus „freiwillig“ zu unterwerfen, um noch größere Schmerzen zu vermeiden. Dabei rechtfertigt sie implizit auch Rufus‘ Vergewaltigungen („eine zerstörerische Liebe, aber dennoch Liebe“) – vielleicht weil die Erkenntnis, dass die eigene Existenz auf nichts als Gewalt und Widerwillen beruht, einfach zu schmerzhaft gewesen wäre. Auch Dana selbst senkt immer öfter den Kopf und murmelt brav „Ja, Sir“, einfach nur, um ihre Ruhe zu haben – eine Art des stummen Widerstands, der inneren Emigration, die sie sich bei den anderen Versklavten abgeschaut hat.
Steckt in dieser Unterwerfung eine selbstzerstörerische Tendenz? Oder vielmehr das Verlangen, die nie bewältigten Traumata vorheriger Generationen am eigenen Leib zu durchleben, vielleicht in der Hoffnung auf eine Art Katharsis?
Die Idee der Zeitreise ist eng verknüpft mit Derridas Konzept der „Hauntologie“ – der Vorstellung einer aus den Fugen geratenen Zeit, in der die Vergangenheit, egal wie totgeschwiegen bzw. für tot erklärt sie sein mag, geisterhaft die Gegenwart durchzieht und in ihr fortwirkt. So lässt sich Dana selbst in gewisser Weise als „Phantom“ lesen, hält man sich vor Augen, dass Schwarze Narrative, insbesondere die Narrative Schwarzer Frauen, jahrhundertelang systematisch ausgeblendet oder umgeschrieben wurden, um möglichst reibungslos in die männlich und weiß dominierte Geschichtsschreibung zu passen. Zugleich lässt sich „Hauntologie“ als Versuch begreifen, die aus den Fugen geratene Geschichte wieder einzurenken, Verantwortung gegenüber den Toten und Totgeschwiegenen zu übernehmen, die in der Erzählung der „Sieger“ nicht mehr bzw. nur auf verzerrte Weise vorkommen.
Dana nimmt den Staub und Dreck der Plantage, die Wunden und Narben ihrer Auspeitschungen mit hinüber nach 1976. Symbolisch, könnte man sagen, haben sich die Traumata ihrer Vorfahren in ihren eigenen Körper eingeschrieben. Die Vergangenheit lässt sich mit dem Übertritt in die Gegenwart weder abwaschen noch auf magische Weise heilen – vielmehr ist sie seit Danas und Kevins Zeitreisen präsenter denn je. Einmal ertappt sich Dana dabei, wie sie bei einer ihrer Entführungen ins 19. Jahrhundert unwillkürlich denkt: „Endlich zu Hause!“ – so vertraut ist ihr der Anblick des Weylin-Anwesens inzwischen, ungeachtet der Erniedrigungen und Schmerzen, die sie dort erlitt. Im Kontrast dazu erscheint sowohl Dana als auch Kevin ihre saubere, aufgeräumte Wohnung in Los Angeles seltsam fremd und unwirklich. Es fällt ihnen zunehmen schwer, im Jahr 1976 Fuß zu fassen. „Zu Hause“, muss Dana erkennen, ist ein zweideutiger, unsicherer Begriff geworden – allzu durchlässig ist die Grenze zwischen Früher und Jetzt, allzu präsent das Leid ihrer Vorfahren, bis in die Gegenwart hinein.
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