Amerikaner, die Amerikaner hassen.
Dass kleinste Abweichungen ein ganzes System ins Schwanken bringen können, wird als Schmetterlingseffekt bezeichnet. Ausgehend von der Frage »Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? « etablierte im Jahr 1972 der US-amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz den Begriff, der heute zum geflügelten Wort geworden ist. Vielleicht würden wir heute vom Katzeneffekt sprechen, hätte er Paula Fox‘ Roman Desperate Characters, der nur zwei Jahre zuvor erschien, gelesen. In der Erzählung, die von C. H. Beck unter dem deutschen Titel Was am Ende bleibt neu aufgelegt wurde, steht nämlich ebenfalls ein Tier am Anfang einer Kette von Ereignissen, die einen ganzen Mikrokosmos zum Schwanken bringen.
Sophie Bentwood wird beim Abendessen von einer herumstreunenden Katze gebissen, die auf der Suche nach Futter seit geraumer Zeit ihr Heim aufsucht. Ehemann Otto tadelt Sophie für ihre Unachtsamkeit, sorgt sich wegen ihrer Verletzung und bald schon sprechen die beiden wieder über andere Dinge. Der Katzenbiss schmerzt, wird aber hintenangestellt. Schließlich wartet eine Party auf die beiden, die gesellschaftlichen Verpflichtungen rufen. Auf dem Heimweg von dem absonderlichen Karneval der Vollzeitkäuze kommt Sophie aber die Erkenntnis: »Diese Katze hat mich vergiftet. «
Dabei ist es vielleicht gar nicht so sehr der Schock über den Biss, die daraus resultierenden Schmerzen oder der schwierige Heilungsprozess, der Sophie aus der Fassung bringt. Vielmehr scheint sie in der körperlichen Verletzung ihre seelischen Verwundungen gespiegelt zu sehen. »Wie rasch wurde die Hülse des Erwachsenenlebens, seine Wichtigkeit, durch den Stoß von etwas zertrümmert, was ganz plötzlich und wirklich und dringend und absurd war«, sinniert sie zu einem späteren Zeitpunkt und bringt damit auf den Punkt, was sie tatsächlich quält.
Denn das kinderlose Pärchen Bentwood, das in einer verslumten Ecke Brooklyns lebt, führt alles andere als eine erfüllende Beziehung. Sie leben nebeneinander her, geraten aneinander und sind beide mit ihren Leben unzufrieden. Neben den immer wiederkehrenden Streits über Nichtigkeiten knabbert noch Sophies Affäre mit Francis an ihr, während Anwalt Otto sich mit dem verzweifelten Charlie auseinandersetzen muss, den er kurzerhand die Partnerschaft in der gemeinsamen Kanzlei gekündigt hatte. Charlie wiederum versucht sich an Sophie zu halten, die dadurch nur noch mehr belastet wird.
Keine guten Grundlagen für eine reibungslose Beziehung, keine guten Umstände, unter denen es sich miteinander glücklich werden ließe. So schlimm scheint die Lage aber doch nicht zu sein: Otto liebt seine Frau. Und selbst wenn Sophie noch an Francis denkt, der abrupt die Flucht aufgenommen hatte, ganz abgestorben scheinen ihre Gefühle ebenfalls nicht zu sein, zumindest nicht so sehr, als dass sie die aufkommenden Zweifel gänzlich ersticken. Obwohl keine Hoffnung für die beiden in Sicht ist, bleibt das Drama mit Knalleffekt und Katastrophe aus.
Die rar gesäten Momente, in denen die beiden einander mit Zärtlichkeit begegnen, ändern jedoch kaum etwas daran, dass die Beziehung der beiden festgefahren ist. Die Bentwoods gönnen einander nicht das individuelle und damit sich selbst auch nicht das gemeinsame Glück. Das macht Was am Ende bleibt zu einem höchst ambivalenten Liebesroman. Ein Liebesroman, der nicht einmal eine Auflösung erhält, weder in der Katastrophe endet noch ein happy ending nach sich zieht, der sich gerade deshalb umso deprimierender liest, weil er so niederschmetternd authentisch vom dumpfen Absterben der Liebe erzählt.
Andererseits zeichnet Fox auch ein nicht minder doppeldeutiges Bild der bessergestellten US-Amerikaner in Zeiten des Vietnamkriegs. Was am Ende bleibt erzählt von Amerikanern, die Amerikaner hassen. Also alle um sie herum und erst recht sich selbst. Sie sind zwar auf ihre eigene Art liebenswert und fordern Mitgefühl für ihre verkorksten Leben ein, geben sich aber auch weinerlich, narzisstisch, rassistisch und verschroben. Auch auf dieser Eben hören die Ambivalenzen nicht auf – das lässt die Charaktere jedoch nur umso stärken wirken, macht sie plastisch.
Das ist vor allem den stilistischen Kunstgriffen Fox‘ geschuldet, die ihre Figuren eher dezent andeutet und sie sich lieber selbst in absurden Dialogen offenbaren lässt. Die Gespräche zwischen den halbgescheiterten Existenzen lesen sich, als hätte sich J. D. Salinger nach einer mit Bret Easton Ellis durchzechten Nacht daran gemacht, das Drehbuch für einen Woody Allen-Film zu überarbeiten: Nonchalant, idiosynkratrisch, urkomisch und irgendwie ziemlich enervierend. Das macht sie aber sehr stark und all die verqueren Figuren letzten Endes so glaubhaft. Fox‘ schonungsloser Sprachwitz entbehrt nicht der Empathie, ihre scharfen Spitzen verbergen sich in den harmlosesten Nebensätzen und liebevollsten Gesten, noch die irrwitzigsten Dialoge fördern viel über die Figuren ans Tageslicht.
Den Katzenbiss hätte es eigentlich nicht gebraucht, irgendwann wäre die angestaute Unzufriedenheit des Ehepaars Bentwood sowieso umgekippt. Ob Sophie und Otto aus den Erkenntnissen, die die wenigen Tage für sie bereithalten, die richtigen Schlüsse ziehen und welche das überhaupt sein könnten, darüber verrät Fox jedoch nichts. Was am Ende nämlich bleibt, ist nur wieder eine sehr doppeldeutige Szenerie, ein symbolischer Akt, von dem nicht sicher ist, welche Konsequenzen er nach sich zieht. Mühelos gelingt Fox ein durch und durch glaubhaftes Porträt einer Beziehung, einer ganzen sozialen Schicht und vor allem einer der bittersten Wahrheiten über die Liebe überhaupt. Was am Ende bleibt ist nicht weniger als ein zeitloser Klassiker. Und das, obwohl der Roman beinahe in der öffentlichen Wahrnehmung untergegangen wäre, hätte ihn Jonathan Franzen nicht 1996 mit seinem Essay Anleitung zum Alleinsein zu spätem Ruhm verholfen. Eben dieses Essay ist der Neuauflage ebenfalls zum ersten Mal in deutscher Übersetzung beigefügt. Ein nettes Gimmick, das die Neuauflage eines durch und durch brillanten Romans abschließt.
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